Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
wirst du sie dann auch nicht.«
»Ich will aber nicht, ich muss mich sowieso schon bald umziehen. Mama, das ist obermies.«
Lea bemühte sich um Fassung. Die ständige Hausaufgabendiskussion war eine unendliche Geschichte ohne großen Unterhaltungswert. »Schön, dann zeig mir die Aufgaben, die du nicht verstehst.«
Frederikes Widerstand schwächelte. »Na gut, aber wenn es zu lange dauert, mache ich die Hälfte heute Abend.«
»Einverstanden«, gab Lea nach. Einen Verhandlungserfolg für jeden, so war es meistens. Anderen ging es da nicht besser.
»Diese dauernden Diskussionen sind das Schlimmste in diesem Alter«, hatte auch ihre Freundin Katrin vor kurzem gestöhnt.
»Klar, aber so unvermeidbar wie Pickel«, hatte Lea außer Atem erwidert, da sie gerade eine kleine Anhöhe emporgeschnauft waren. Ihre wöchentliche Joggingstrecke in den Weinbergen war durch das ständige Auf und Ab ein anspruchsvoller Trainingsparcours.
»Aber wenigstens reden wir dann miteinander.« Katrin hatte genügend Luft, um während des Laufens zu sprechen. »Die meisten Familien sprechen überhaupt nicht mehr miteinander. Neulich las ich, dass eine durchschnittliche amerikanische Familie im Schnitt fünf Minuten am Tag miteinander spricht. Ist das nicht furchtbar?«
Mehr als ein knappes »Ja« hatte Lea zwischen ihren Atemzügen nicht zustande gebracht. Katrin war eindeutig besser in Form. Auf dem höchsten Punkt ihrer morgendlichen Runde hatte sich dann unabgesprochen eine kurze Rast ergeben, und die beiden Frauen hatten den Ausblick genossen.
»Da ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass man nur wenig von den Menschen weiß, mit denen man zusammenlebt, oder?«
»Stimmt schon. Manchmal glaube ich, die Menschen machen sich erst dann Gedanken, mit wem sie es in ihrer Umgebung zu tun haben, wenn etwas passiert ist. Nimm, was du willst – eine psychische Entgleisung, ein Todesfall, eine Ehescheidung … Erst da werden die meisten nachdenklich.«
»Nützt aber meist nichts mehr.« Katrin hatte einen Erdklumpen über den Weg gekickt.
»Andererseits habe ich manchmal den Eindruck, Menschen zu kennen, mit denen ich nur wenige gemeinsame Erinnerungen teile, die mich dafür aber sehr beschäftigt haben.«
»Kenn ich«, hatte Katrin zugestimmt, »mit dem ersten Jungen, in den ich mich verliebt habe, habe ich vielleicht drei Sätze gesprochen, dennoch hatte ich die innere Gewissheit, ihn in- und auswendig zu kennen. – Und du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen. Ich war ein richtig schüchternes Mädchen.«
Katrin war einer der offensten und kommunikativsten Menschen, denen Lea bisher begegnet war, und so zweifelte sie gründlich an der Schilderung von dem schüchternen Mädchen.
»Mama, ich bin fertig mit Mathe, ich habe alles verstanden.« Frederike riss Lea aus ihren Betrachtungen. »Können wir dann losfahren zur Schule?«
Lea brauchte einen Moment, um sich von ihren Gedanken zu lösen. »In Ordnung, in fünf Minuten geht’s los.« Sie stützte den Kopf in die Hände und schloss die Lider. Sie hatte das deutliche Gefühl, Susanna van der Neers blaue Augen seien auf sie gerichtet.
Das Wasser wechselte die Farbe vom Ufer zur Mitte hin, wo es tiefer wurde. Die Berge und der Himmel mit seinen eindrucksvollen Wolkengebilden spiegelten sich auf seiner Oberfläche, und es sah aus, als habe jemand glitzerndes Konfetti darübergestreut. Die Wellen schwappten in stetigem Takt an die unterste Stufe der breiten Treppe, die an dieser Stelle zum Wasser hinunterführte. Ein toter Fisch wurde mit jeder Wellenbewegung an die Steine herangespült und mit der nächsten wieder zurückgezogen. So, als könne das Wasser sich nicht entscheiden, ihn endgültig herzugeben. Die Sonnenstrahlen fingen sich in dem milchigen Fischauge und in den silbrig-grün glänzenden Schuppen. Susanna schauderte. Tod und Zerfall erschreckten sie immer, auch wenn sie wie hier etwas Beiläufiges, Lau t loses und Unspektakuläres hatten.
Pünktlich um 16 Uhr saß Lea in der Eingangshalle von Frederikes Grundschule auf einem harten, kleinen Schulstuhl. Die Hauptrollenhexe war nicht erkrankt, und so konnte der ramponierte Besen im Auto bleiben. Frederike schlüpfte in ihr Hasenkostüm. Die Hexe wohnte in einem dunklen Hexenwald. Die überaus dichte Bevölkerung des Waldes sorgte dafür, dass jedes Schulkind eine Rolle in der Aufführung bekommen hatte. Die Zuschauer hatten Verständnis für die zehn Hasen, drei Füchse, sechs Dachse und fünf
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