Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
zurück in den Sozialraum, fand ihn jedoch leer vor. Ullrich war zurück in sein Sprechzimmer gegangen – diese »Bühne mit wechselnden Stücken«, wie er sich auszudrücken pflegte: »Die Räuber, Die Katze auf dem heißen Blechdach, Einer flog über das Kuckucksnest, Effi Briest … Ich brauche kein Schauspielabonnement. Im Übrigen«, hatte er augenzwinkernd hinzugefügt, »bescheiden wie ich bin, fühle ich mich dem Faust sehr verbunden und wüsste gerne, was den Mensch im Innersten zusammenhält.«
Faust und Mephisto, überlegte Lea, waren die ein ebenbürtiges Paar? Von Frau van der Neer und ihrem Teufel konnte man das nicht gerade sagen.
Über die Rheinallee und die Hechtsheimer Straße steuerte Lea eine gute Stunde später ihr Heimatviertel an. Erstaunlich, wie wenig wir wirklich über unsere Patienten wissen, dachte sie. Wir bekommen Lebensabschnitte zugeteilt, setzen uns den Rest mit einer psychologischen Kittmasse zusammen und glauben, ein annähernd richtiges Bild vor Augen zu haben. Susanna van der Neer war tot. Ihr Name und eine dazugehörige Nummer standen nun auf einer Ermittlungsakte der Kriminalpolizei. Hatte sie sich zu wenige oder die falschen Überlegungen zu den Problemen Frau van der Neers gemacht, hatte sie sich zu leicht damit zufriedengegeben, dass es ihr ein wenig besser gegangen war? Leas schlechtes Gewissen befand sich sprungbereit hinter jeder Ecke.
Wie aus dem Nichts tauchte eine ältere Dame auf dem Fußgängerüberweg vor ihr auf. Erschrocken trat Lea mit aller Kraft auf die Bremse. Durch den plötzlichen Stopp rutschte ihre braune Ledertasche vom Beifahrersitz und ihr gesamter Inhalt verteilte sich in wildem Durcheinander im Fußraum. Mit Blick auf das Chaos beschloss Lea, ihre Tasche demnächst gründlich aufzuräumen.
Nachdem die Frau, die mit starrem Blick geradeaus den Zebrastreifen überquert hatte, auf der anderen Straßenseite angelangt war, trat Lea aufs Gaspedal. In den restlichen fünf Minuten der Heimfahrt konzentrierte sie sich ausschließlich auf den Straßenverkehr.
Beim Öffnen der Haustür hob Lilly den Kopf in ihrem Hundekorb, gähnte und streckte sich.
»Andere Hunde bewachen Häuser, und du machst ein Nickerchen, was?«
Lea kraulte Lilly hinter den Ohren und ließ sich als Gunstbeweis die Hand ablecken. Lilly schaute sie aus treuen Hundeaugen an und lief dann schwanzwedelnd vor ihr her in die Küche. Diese verstand den Wink, öffnete den Kühlschrank und griff nach einem der unzähligen, immer willkommenen Leckerbissen. Diesmal war es ein Stück Käse. Zufrieden trottete die Hündin zurück in den Korb und legte die Schnauze auf dem Rand ab. Wenn der Kühlschrank sich das nächste Mal öffnete, würde sie dies auf keinen Fall verpassen.
Lea zog Schuhe und Jacke aus, nahm sich die Post von der Konsole und ging damit in ihr Arbeitszimmer. Eine halbe Stunde später – weit war sie mit der Bearbeitung des Poststapels nicht gekommen – stieg sie mit Frederike, die inzwischen nach Hause gekommen war, in den Keller hinunter, auf der Suche nach dem Hexenbesen. Zwischen Kisten, Koffern, alten Kinderzimmermöbeln, ausrangierten Spielsachen und Schulbüchern fanden sie einen kurzen und reichlich ausgefransten Besen. Dieser hatte offensichtlich schon einige Kinderfaschingsfeste in Kindergarten und Gemeindehaus überstanden, aber gerade nur so.
»Der ist viel zu hässlich, den kann ich nicht nehmen!« Missmutig betrachtete Frederike die wenigen Strohstängel an dem Holzstiel.
»Aber wenigstens sieht er echt aus«, bemühte sich Lea, das zerzauste Gebilde anzupreisen, »komm schon, Freddy, den nehmen wir jetzt. Sonst schaffen wir es nicht mehr zur Aufführung.« Lea hatte sich entschlossen, diesen Punkt undemokratisch zu entscheiden.
Nach einem kurzen Mittagessen blieb bis zur Schulaufführung noch eine knappe Stunde Zeit, und Frederike wurde zum Hausaufgabenmachen hinauf in ihr Kinderzimmer geschickt. Lea schmierte sich noch ein Brot mit Ziegenkäse und griff den Kaffeebecher. So bepackt ging sie zu ihrem Poststapel zurück.
Sie hatte gerade zwei Schriftstücke durchgelesen, als Frederike in das Arbeitszimmer gelaufen kam. »Mama, Mathe ist doof! Ich verstehe das nicht. Ich mache das heute Abend.« Schon wollte sie sich umdrehen, um der mütterlichen Antwort zu entkommen, aber Lea hatte durchaus Übung darin, flüchtige Kinder aufzuhalten.
»Nein, stopp, du machst die Aufgaben jetzt . Heute Abend hast du noch viel weniger Lust, und leichter verstehen
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