Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Grenzübertretungen. Jeder konnte die Person offenbaren, die er innerlich vielleicht war, aber nach außen nicht zeigte, und das Ganze wiederum innerhalb der Spielregeln, die nur für diese Zeit galten. Leider hatte Lea aber in den letzten Jahren den Eindruck, mit steigendem Alkoholkonsum zerflössen sogar diese schönen Ausnahmeregeln.
»Frederike, langsam«, rief sie ihrer Tochter erneut hinterher, die begeistert auf der Jagd nach Bonbons und anderen Souvenirs immer schneller vorwärtsdrängte.
Neben Lea zerbrach eine Flasche auf dem Boden. Ein junges Mädchen fuhr ihren Begleiter rüde an: »Mensch, du Idiot, kannst du nicht aufpassen?« Der reagierte nicht, und als der Geruch von Hochprozentigem in Leas Nase ankam, war klar, warum der Mann mit dem Zylinder und der Gesichtsbemalung die Ereignisse nicht mitbekam. Sie drängelte voran, in die Richtung, in der sie Frederikes roten Parka zuletzt gesehen hatte. »Freddy, bleib jetzt endlich stehen!« Ihre Stimme hatte die höhere Tonlage angenommen, die eine beginnende Platzangst ankündigte. Frederike drehte sich um und zeigte ihrer Mutter die halbgefüllte Plastiktüte.
»Schau mal, ich hab dieses Jahr richtig viel erwischt. Ist doch super!«
»Wirklich toll, mein Schatz«, bestätigte Lea, die eigentlich nur erleichtert war, ihre Jüngste wieder bei sich zu haben. An ihnen vorbei zog ein Spielmannszug in blau-weiß-roten Uniformen. Durch die flotte Marschmusik fühlte man sich hundert Jahre zurückversetzt. Hinter den Bläsern lief eine Gruppe mit Rhythmusinstrumenten. Blechtrommeln, Rasseln, Schellen. Eine Triangel, deren zarter, hoher Klang sich vereinzelt durch die Melodie zog. Ob sie jemals die Bedeutung dieses Tons kennen würde? Lea schob den Gedanken sofort beiseite. Es hatte keinen Sinn, weiter zu grübeln.
»Mama, da ist Ullrich! Da drüben!« Frederike zerrte Lea am Arm hinter sich her Richtung Südbahnhof.
»Hast du dich nicht geirrt?«
»Nein, bestimmt nicht.«
Geschickt schlängelte sich Frederike durch die Menschen, und Lea folgte ihr brav, sicherheitshalber mit der Hand an ihrem Kapuzenzipfel. Endlich stoppte Frederike und tippte einem Mann auf den Arm. Er drehte sich um, erstaunlicherweise war es wirklich ihr Kollege.
»Hallo, Ullrich«, brüllte Lea, obwohl sie nur einen Meter von ihm entfernt stand, »wo ist Françoise?«
»Sie wollte nicht mit. Es ist ihr hier zu laut«, brüllte Ullrich zurück.
»Recht hat sie.« Mit Ullrich fühlte sie sich deutlicher sicherer in diesem Gewühl.
»Und Sören?«
»Der muss arbeiten. Für die Patienten gibt’s keine Fastnacht.«
Hinter ihnen bahnte sich ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene langsam seinen Weg durch die Menschen.
»Da kommt Nachschub. Für die Kollegen der Aufnahmestationen wird’s bestimmt eine heftige Nacht.«
»Sieht so aus … Erst die Ausnüchterung, später vielleicht die Intensivstation«, sagte Lea in einer Lautstärke, die normalerweise gereicht hätte, um eine Information vom Keller zum Dachgeschoss zu transportieren.
»Tendenz Intensivstation, befürchte ich; Peter hatte letztes Jahr am Rosenmontag Dienst. Es muss grauenhaft gewesen sein. Sie hatten eine Dreizehnjährige mit massiver Alkoholvergiftung, sie hat gerade so überlebt.«
Peter Westfahl war Ullrichs langjähriger Freund, Oberarzt in der Inneren Abteilung der Johannes-Gutenberg-Universität. Sie gingen regelmäßig im Sommer eine Woche zum Bergwandern und verschafften sich damit die erforderliche Verschnaufpause vom Alltag.
»Jetzt sind es bereits Kinder.« Lea musste nicht mehr so schreien, weil Ullrich sich zu ihr hinübergebeugt hatte.
»Kampfsaufen«, gab Ullrich das Stichwort.
Gemeinsam waren sie ein Stück hinter das Kinocenter gegangen. Hier dröhnte die Musik nicht so unfassbar laut.
»Ich habe die Blaskapellen gesehen und die Gruppe mit den Metallinstrumenten. Bei jedem Klang dieser Art verspüre ich Unruhe. Das verschwindet aber nach einiger Zeit, und es geschieht nichts. Überhaupt nichts!«
Ullrich wusste augenblicklich, wovon Lea sprach. Er schaute sie nachdenklich an: »Ich weiß nicht. Die ganze Geschichte war schon eigenartig, und irgendwie scheint sie für dich nicht wirklich vorbei zu sein.«
Ullrichs geschultem Blick entging nicht, dass sich hinter Leas munterer Art eine Unsicherheit verbarg, die neu an ihr war. Klar, gute und schlechte Tage hatte jeder, aber dies war etwas anderes.
Hinter ihnen rief ein Mann plötzlich: »Achtung, Flasche!« Instinktiv zogen alle in der
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