Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
van der Neer noch nicht abzuschließen.
Er hatte zunächst erwogen, dem ISG gegenüber die Hypnosesitzung in Heidelberg zu erwähnen, sich dann aber intuitiv dagegen entschieden. Seine langjährige Erfahrung warnte ihn davor, um eines kurzen Triumphes willen dem Gegner Einblicke in die eigenen Gedanken und Vermutungen zu verschaffen. Möglicherweise ergab sich daraus ein nicht kalkulierbares Risiko für die Sicherheit von Lea Johannsen, und das wollte er auf gar keinen Fall eingehen. »Man darf das Glück nicht herausfordern«, sagte er zu sich selbst, womit er in den Fundus an Sinnsprüchen griff, den ihm seine Großmutter hinterlassen hatte. Diese war klug gewesen und unauffällig – bis auf die auffällige Zufriedenheit, die jedermann sofort an ihr bemerkte.
Langsam kehrte der Alltag für Lea zurück. Die Weihnachtsvorbereitungen waren diesmal beinahe willkommen, brachten sie doch eine intensive Ablenkung. Nach und nach verblassten die Erinnerungen an die außergewöhnlichen Ereignisse. Leas neues Handy, diesmal nicht rot, sondern in einem schlichten Grauton, bekam von Jonas den gleichen Klingelton verpasst, an den sie seit Jahren gewöhnt war, so dass Lea den Unterschied nach einer Weile kaum noch bemerkte.
Schrittweise nahmen auch ihre Befürchtungen hinsichtlich eines posthypnotischen Befehls ab. Es war nichts eingetreten, was auf eine solche Anweisung hätte schließen lassen, und dabei würde es vielleicht auch bleiben. Nur zu genau erinnerte Lea sich an die Worte von Frau Professor von Helmstetten: »Manchmal dauert es Wochen und Monate, bis etwas den Weg ins Bewusstsein findet, manchmal bleibt es für immer verborgen.«
Sie feierten ein ruhiges, gemütliches Weihnachtsfest. Lea nutzte die Schulferien, um sich einmal richtig auszuschlafen. Außer den Spaziergängen mit Lilly – selbst zum Joggen konnte sie sich nicht aufraffen –, Lesen, Plätzchenessen und Schlafen gab es nichts, worauf sie Lust hatte. Wenn auch nur widerstrebend, hatte sie einsehen müssen, dass die vergangenen Ereignisse sie mehr beeindruckt hatten, als sie wahrhaben wollte. Sie empfand sich als schreckhaft, niedergeschlagen, unkonzentriert, und auch ihrer Familie fiel auf, dass sie häufig in Gedanken versunken war.
Einmal war sie nach Hause gekommen und hatte Frederike bei einer Nachmittagssendung erwischt, deren Konsum eigentlich verboten war. Lea hatte zum Erstaunen von Frederike nur ihren Mantel aufgehängt und war mit einer Tasse Kaffee in ihrem Arbeitszimmer verschwunden. Frederike war ihr verblüfft ins Arbeitszimmer hinterhergerannt. »Mama, was’n los?«
»Doch, doch, alles in Ordnung«, hatte ihre Mutter zerstreut geantwortet. Frederike hatte allerdings so gar nicht den Eindruck, dass alles in Ordnung war.
Als Mitte Januar ganz Mainz unter einer dichten Schneedecke lag, die das schmutzige Grau der Straßen, Dächer und der Vorgärten mit ihren glitzernden Schneekristallen zum Verschwinden brachte, dachte Lea, das es wohl das Beste wäre, die Erinnerung an die Geschehnisse nicht mehr weiter anzutasten.
Am Rosenmontag empfing ohrenbetäubender Krach Lea an der Rheinallee, nachdem sie unter der Eisenbahnbrücke, die zum Südbahnhof führte, hindurchgegangen war. Auf dem Platz, an dem sich ein Restaurant und Café mit Namen Citrus befanden, stand eine riesige Wand mit Lautsprechern. Die Polizei hatte den Bereich bereits großzügig abgesperrt, aber jeder Autofahrer hätte bei den Menschenmengen, die sich auf der Rheinallee, in der Kurve zur Holzhofstraße und rund um den Südbahnhof versammelt hatten, ohnehin aufgegeben.
»Frederike, langsam! Wenn wir uns hier verlieren, haben wir keine Chance, uns wiederzufinden.«
Selbst die Klingeltöne des Handys würden bei diesen Phonstärken untergehen. Es nahte der alljährliche Rosenmontagszug, ein Phänomen, das Nichtmainzern für immer rätselhaft bleiben würde. Nicht nur, dass die Schulen komplett geschlossen blieben, während im Nachbarland Hessen erst ab der vierten Stunde unterrichtsfrei war, nein, die Dimension der Meenser Fassenacht war wohl einzigartig. Das ganze Jahr über wurde geprobt, es wurden Kampagnen geplant, Kostüme geschneidert, an Büttenreden gefeilt und der Großauftritt vorbereitet. Von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch befand sich die Stadt im Ausnahmezustand, und die Zahl der Menschen, die von außerhalb kamen, um daran teilzuhaben, war erdrückend.
Lea fand die Idee der Fastnacht irgendwie genial. Sie erlaubte den Menschen
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