Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
spanischem Rotwein am Kamin nieder. Selten genug waren solche Abende.
»Na, was macht dein ungelöster Fall?« Sören lehnte sich genießerisch im Sessel zurück.
Lea betrachtete sein Gesicht. Eine der vielen liebenswerten Eigenschaften ihres Ehemannes war es, dass er sich hartnäckig und erfolgreich weigerte, sich wie ein Fünfzigjähriger zu verhalten. Er war sicherlich verantwortungsbewusst und extrem verlässlich, insbesondere wenn es um berufliche Dinge ging, im Alltag wirkte er jedoch häufig wie ein Dreizehnjähriger, dem auf dem Fußballplatz das Tor des Jahrhunderts geglückt war.
»Du musst dich gar nicht über mich lustig machen, diese Angelegenheit geht mir wirklich ständig durch den Kopf.« Lea nippte an dem dunkelroten Wein. »Ich habe das Gefühl, dass mir etwas einfallen müsste, aber irgendwie komme ich nicht drauf.«
»Das geht mir die Hälfte des Tages so, ich habe mich bloß schon daran gewöhnt«, erwiderte Sören ohne auch nur die Spur eines Problembewusstseins. Absolut typisch – auf einem Geburtstag hatten sie beide ein Zitat gehört: »Das Ich altert nicht!« Wenige Tage darauf, bei einem Spaziergang in den Weinbergen, hatte Sören sich daran erinnert. »Weißt du, dieser Ausspruch ist genial. Das Ich bleibt immer jung!« Die Umdeutung war nicht nur auf sein schlechtes Gedächtnis zurückzuführen, sondern offenbarte seine ausnahmslos optimistische Weltsicht. Und schon dafür würde ihn Lea ewig lieben.
Die dicken Birkenscheite wurden von kleinen züngelnden Flammen erfasst. Lea beobachtete die Funken, die sich unaufhaltsam durch das Kaminholz fraßen. Das Feuer, die Flammen, die Hitze, der Schmerz … Kein Wunder, dass die Menschen vor dem Fegefeuer Angst hatten.
»Ach, die Aufzeichnungen!«
Lea fiel wieder ein, was sie Kommissar Bender am Telefon versprochen hatte. Sie erhob sich aus dem gemütlichen Sessel und lief hinunter in den Keller, in ihr Arbeitszimmer. Wo war diese Akte? Lea wühlte in den Papieren. Einige linierte DIN-A5-Karteikarten in der Hand, kam sie wieder nach oben. Bevor sie sich erneut in den Sessel am Kamin fallen ließ, sagte sie den Kindern noch Gute Nacht.
Sören war inzwischen zur Lektüre der Tageszeitung übergegangen und widmete sich gerade dem Sportteil. Von Zeit zu Zeit rückte er mit dem Schürhaken die Holzscheite im Kamin zurecht. Lea vertiefte sich in einzelne Wörter, Sätze, Anmerkungen ihrer Notizen. Wo war er, der Anfang des Ariadnefadens, um in dem Labyrinth eines komplizierten Lebensweges die Mitte und auch wieder den Ausgang zu finden?
Patient: van der Neer, Susanna
23. Mai. Keine Panikzustände mehr, kein Wort mehr über den Teufel oder den Weg, aber ständiges Grübeln über den Lebensweg, Einschlafstörungen, Schuldgefühle, Bilder, die sie bis in den Traum verfolgen. Erinnerungen und Gedanken an zwei Abtreibungen. Die erste vor 25, die zweite vor 23 Jahren. Davor Trennung / Liebesbeziehung.
Trennung / Liebesbeziehung! War dieser Mann, von dem sie sich getrennt hatte, der Vater der ungeborenen Kinder? Bestand da ein Zusammenhang zwischen den Abtreibungen und der Trennung? Lea suchte nach einer weiteren Eintragung dazu, fand aber keine. Sie las weiter.
Träume vom Tod eines Kindes in einem weißen Kleid, sehr real, sie kann das Kind nicht retten, läuft am Rand einer Klippe entlang, sie möchte hinterherrennen, aber ihre Beine sind wie gelähmt, sieht das Kind hinunterstürzen. Es streckt im Fallen die Ärmchen nach oben. Sie kommt zu spät, auf dem Wasser entdeckt sie das weiße Kleid.
Patientin wacht auf und muss über ihren Traum weinen. Der Tag nach diesem Traum ist schrecklich. Sie ist wie in Trance und sieht das abstürzende Kind immer wieder vor sich.
(Patientin von Cleo H. geschickt)
Analytisch gesehen könnte das Kind im Traum für die eigene Kindheit stehen, vielleicht für den dramatisch erlebten Verlust der Kindheit? Lea kaute auf dem Bleistiftende herum. Andererseits waren Trauerreaktionen und Träume von einem Kind als Folge von Abtreibungen, auch Jahre später, keine Seltenheit. Besonders dann nicht, wenn die Frauen später keine Kinder mehr bekamen. Einigen erschien die spätere Kinderlosigkeit sogar als verdiente Strafe für die Abtreibung. Unschlüssig drehte Lea die Karte um.
… wie ein Gang zum Zahnarzt, keine große Sache.
Einige, die vier- bis fünfmal zu einer Abtreibung gegangen sind, hatten überlegt, das Kind zu bekommen. Dann Beeinflussung durch die Gruppe – Verlust von Freiheit und
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