Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
bitte, Ullrich: Da kann Sören von normaler Stressreaktion sprechen, so viel er mag – das ist nicht normal.«
Ullrich hatte sich ihr gegenübergesetzt. »Leider richtig. So locker wie Sören sehe ich das auch nicht. Sag mal, was wiegst du eigentlich?«
»Wie, was ich wiege?«
»Ganz normale Frage, Lea: dein Gewicht in Kilogramm?«
»Weiß ich nicht, das ist im Moment auch nicht so wichtig.«
»Das sehe ich anders. Komm mit.«
Ullrich nahm sie wie ein Kind bei der Hand und stellte sie in seinem Sprechzimmer auf die Balkenwaage. Den großen Schieber stellte er auf 50 Kilogramm und den kleinen auf zwei Kilogramm. Die Waage kippte mit einem metallischen Klick nach links. Bei 49 Kilo stand die Balkenwaage gerade.
»Mensch, Lea, wir behandeln hier Anorexiepatienten, wir produzieren sie nicht!«
Lea war bestürzt. Dass sie die vergangenen Wochen keinen Hunger verspürt hatte, war ihr kaum aufgefallen.
Ullrich übernahm jetzt die Regie. »Pass mal auf, wir sagen alle deine Termine für die nächsten drei Wochen ab. Und ich werde mit Sören reden.«
Leas Protest überging er, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Lea, ich habe wirklich kein Interesse daran, dass du hier zusammenklappst. Außerdem ist das imageschädigend.«
Er bedachte sie mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete, griff nach ihrem Handgelenk, tastete den Puls und sah auf seine Armbanduhr. Nach fünfzehn Sekunden ließ er sie los.
»Deine Herzfrequenz ist immer noch knapp unter einhundert. Du bist noch nicht ganz durch mit deiner Panikattacke.«
Lea spürte es selbst. Sie fühlte sich wie an eine Steckdose angeschlossen und gab sich geschlagen. »Also gut, ich hole noch einige Sachen aus meinem Zimmer. – Nein, nein, keine Arbeit«, ergänzte sie sicherheitshalber, weil Ullrich schon wieder die Stirn runzelte.
»Und, Lea: Mach sicherheitshalber einen Termin beim Kardiologen aus, du weißt schon, Sinustachykardie, Herzrhythmusstörungen und so weiter.«
»Mache ich«, versprach Lea. Sie ging in den Nebenraum ihres Sprechzimmers, packte den Terminkalender und einen mittelgroßen Stapel ungeöffneter Post in ihre Tasche. Sie würde auch noch einige Laboruntersuchungen durchführen lassen. Die Schilddrüse war lange nicht mehr untersucht worden. Vielleicht hatte sie ja lediglich eine Funktionsstörung der Thyroidea, eine Überfunktion, eine Hyperthyreose? Das alles konnte gut behandelt werden.
Fast wie erwartet tauchte unter dem Poststapel die Akte von Susanna van der Neer auf. Ein stummer Appell. Zögernd griff Lea nach dem Aktendeckel, packte ihn gleich darauf mit einer entschlossenen Bewegung ein. So leicht würde sie den Kampf gegen diese unheilvolle Begegnung nicht aufgeben.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu.
»Name, Vorname, Geburtsdatum, Anschrift und Beruf.«
Völlig unvermittelt und zusammenhanglos tauchte das Erinnerungsfragment in Leas Bewusstsein auf. Sie griff nach der Stuhllehne. Das Zimmer schwankte wieder ohne Vorwarnung, und wieder stellte sich ihre Herzfrequenz auf Sprintgeschwindigkeit ein. Die Frage nach ihrem Namen! Wer hatte die gestellt?
Es wurde ihr klar, dass sie hier ein Stück verlorener Erinnerung vor sich hatte. Wie konnte sie es festhalten? Oder mehr davon herbeizwingen? Langsam begriff sie die Möglichkeit, eine Verbindung zu ihrer Erinnerung herzustellen: Sie musste ein passendes Bild bekommen, in diesem Fall zu dem Gesprächsfetzen.
Lea konzentrierte sich auf die Worte, wiederholte die Fragen, die aus einem verschlossenen Bereich ihrer Erinnerung heraustraten, wieder und wieder. Wo war nur das Bild?
Ganz langsam, wie in Zeitlupe, formte sich eine Gestalt, undeutlich zunächst, wie in dichtem Schneetreiben, aber erkennbar. Definitiv eine neue Erinnerung. Eine, die sie noch nicht kannte. Ein Zimmer, ein Raum im ISG, ein Computer, eine junge Frau. Das war’s.
Aber Lea wusste: Das war der Anfang.
Sie kehrte von der gemeinsamen Meditation in ihr Zimmer zurück. Madeleine war wohl schon abgereist, da sie sonst an dieser Veranstaltung immer teilnahm. Nun, manchmal konnte man den Zeitplan nicht selbst bestimmen; tragische Ereignisse hatten ihren eigenen Verlauf.
Sie selbst würde morgen Vormittag nach Mainz zurückfahren und dort warten, bis Marcion ihr die nächste Stufe gestatten würde. Sie war zuversich t lich.
In letzter Zeit hatte sie allerdings Schwierigkeiten mit dem Einschlafen gehabt, da ihr zu viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf gingen, insbesondere abends, wenn sie zur Ruhe
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