Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
gefunden hatte, war etwas aufgebrochen. Die Tränen hatten auf ihre Wangen die feuchte Spur der Qual gezeichnet.
»Hier, nimm!«
Das weiße Taschentuch der Mutter. Es duftete nach Rosen, Iris, Bergamotte, Jasmin, Sandelholz, Patchouli, Vanille. Beim Duft von Arpège, dem vertrauten Parfüm ihrer Kindheit, war er auf einmal da. Er war aus seiner Höhle hervorgekrochen und umfing sie in quälender Umarmung. Der Schmerz. Sie hatte seinen unbarmherzigen Griff gespürt, der einen vollständig vereinnahmte und die Gedanken aufsog.
Aber es war nicht nur der Schmerz, es war die Scham über die eigene Schwäche, die sie daran hinderte, mit ihrer Mutter zu reden. Was sollte sie erklären? Wie sollte sie erklären, was sie selbst nicht verstand? Sie schämte sich für das, was ihr widerfahren war, für das, was sie getan hatte, und auch für das, was sie versäumt hatte zu tun.
Susanna setzte sich auf den Sessel vor dem Sekretär, der aus dem gleichen Holz gefertigt war. Sie zog mit dem Zeigefinger die Maserung des Holzes nach.
England!
Die Tage in England waren wie ein Erinnerungsalbum gewesen. Ein Album, das man von Spinnweben befreien muss, mit schwarz-weißen Fotografien, mit fremden und doch vertrauten Gesichtern der Kindheit.
Sir William Borrow, der Geschäftspartner ihres Vaters in London, hatte sie in seinem Stad t haus willkommen geheißen. Seine Frau Sophie war reizend um sie besorgt gewesen. Sie hatte gleich mehrere Einladungen bei Freunden arrangiert, wahrscheinlich auf Anregung ihrer Mutter. Die plaudernden Damen, die Pfeife rauchenden Herren in der Biblio t hek, die Töchter des Hauses, die auf einen kurzen Besuch von der Universität nach Hause gekommen waren … All das hatte bewirkt, dass sie sich die Frage gestellt hatte: Wäre es vielleicht doch möglich, mein Leben neu zu ordnen?
Lea beeilte sich, nach Hause zu kommen, und wählte dort sofort die Nummer des Sekretariats von Konstanze von Helmstetten in Heidelberg. Ungeduldig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. Hoffentlich war die Professorin nicht auf Vortragsreise. Aber sie hatte Glück und wurde umgehend durchgestellt.
»Von Helmstetten.«
»Johannsen, Frau Professor, entschuldigen Sie bitte den Überfall, aber ich glaube, dass ich mich an etwas erinnere. An etwas, das in diesem Institut im Taunus – Sie wissen schon – passiert ist. Wäre das möglich, auch nach so vielen Wochen?«
»Sicher, das ist durchaus möglich. Ich hatte ja auf diese Eventualität hingewiesen.«
»Ehrlich gesagt erinnere ich mich an verschiedene Details meines Besuches bei Ihnen in Heidelberg leider nur vage. Ich war etwas … verwirrt, könnte man sagen.«
»Nun, vielleicht nicht wirklich verwirrt, eher aufgewühlt, aber dazu hatten Sie auch einigen Grund. Aber wie ich damals schon sagte: Es kommt vor, dass die Hypnosebefehle Risse bekommen, insbesondere, wenn die Hypnose gegen den Willen einer Person erfolgt oder der Befehl zur posthypnotischen Amnesie unter dem Einfluss von Medikamenten nicht sicher platziert werden konnte.«
»Bei dem Medikamentenscreening ist aber ja leider damals nichts herausgekommen«, sagte Lea.
»Das bedeutet nur, dass diese nicht oder nicht mehr nachweisbar waren, schließt aber ihren Einsatz nicht aus. Wie geht es Ihnen denn sonst?«
Lea überlegte kurz, wie es ihr eigentlich ging. »Mit der Hoffnung auf eine vollständige Wiederkehr meines Erinnerungsvermögens schon deutlich besser«, antwortete sie wahrheitsgetreu, »aber die letzte Zeit war schwierig.«
»Verstehe! Die meisten Ärzte – ich nehme mich nicht aus – sind irgendwie Kontrollfreaks. Das Unklare und Nichtkalkulierbare liegt uns nicht besonders. Also: Woran können Sie sich erinnern?«
Lea berichtete von ihren plötzlichen Erinnerungsfetzen, »Name, Adresse«, dem Zimmer und der Frau.
»Das ist doch ein Anfang. Sie haben sich übrigens intuitiv richtig verhalten, da Sie die Worte festgehalten und wiederholt haben. Auf diese Weise haben Sie das dazugehörige Bild erzwungen. Sehr gut.«
Lea freute sich über das Lob, so wie damals, als sich ihre erste schwierige neurologische Diagnose als richtig herausgestellt hatte.
»Noch ein Tipp«, ergänzte Konstanze von Helmstetten, »beim nächsten Erinnerungsfragment gehen Sie genauso vor und schreiben zusätzlich die Worte oder Bilder auf. Das ist sicherer.«
»Das werde ich, vielen Dank. Glauben Sie, dass es jetzt so weitergeht?«
»Möglich, es sieht ganz gut aus. Ich drücke jedenfalls die Daumen.«
Lea
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