Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
kommen wollte.
Sie nahm sich vor, die Ärztin in der Augustinerstraße noch einmal aufzusuchen. Sie wusste, dass sie über ihr konkretes Problem nicht gesprochen hatten, doch möglicherweise war ihre Verschwiegenheit sehr klug gewesen – nur ein paar Äußerungen waren ihr entschlüpft. Darüber war sie im Nachhinein erleichtert, denn sie wusste nicht, wie Marcion darauf reagieren würde, wenn er durch Zufall von ihrem Ausflug erfahren sollte. Sie war sich ziemlich sicher, dass es nicht erwünscht war, die ISG-Geheimnisse weiterzugeben.
Aber die ruhige Art dieser Ärztin hatte immerhin die Panikstimmung, die sie im Ausstellungsraum beim Anblick des Satyrs überfallen hatte, gemildert. Zumindest war sie in der Lage gewesen, zurückzukehren und ihre Arbeit dort zu beenden. Vielleicht würde sie auch die Ausstellung in Köln schon vorbereiten können … Noch das Abendgebet heute und dann, wer weiß …
»Gib uns Kraft, nimm uns die Furcht, lass uns durch die Dunkelheit den Weg finden.«
Die Gebetsstunde am Abend gehörte zu den Zusammenkünften, die sie am meisten genoss. Dieses stille Miteinander, der Wechsel aus Text, Gesang und Gebet befreite sie für eine Weile aus dem Gefängnis der Einsamkeit.
Nun war sie sicher, dass Madeleine abgereist war. Zwei Zusammenkünfte hintereinander hätte sie niemals versäumt. Vielleicht waren die Familienangelegenheiten wirklich sehr dringend. Hoffen t lich keine schwere Krankheit oder ein Todesfall? Sie dachte an den plötzlichen Tod ihrer Mutter.
Du musst dich retten, hatte Madeleine geschrieben. Wovor?
Während des Gebets hatte Susanna sich umgeschaut, hatte in den konzentrierten Gesichtern um sich herum nach etwas Bedrohlichem Ausschau gehalten. Aber da war nichts, was sie hätte entdecken können, und so hatte sie in den Chor eingestimmt, der mit der ersten Strophe eines mittelalterlichen Chorals begonnen hatte: »Das Licht kommt von dir, o Herr …«
Zwei Stunden später lag sie im Bett und beobachtete, wie der Mond sein Licht durch die matten Scheiben streute. Sein Umriss war an den Rändern ausgefranst, und er schien viel größer als sonst.
In dieser Nacht träumte sie von Madeleine. Sie sah eine Wiese, auf der Madeleine einen bunten Strauß pflückte. Fröhlich lachend kam sie auf sie zu, ihre blonden Locken hüpften um das blasse Gesicht. Doch plötzlich blieb sie stehen, winkte ihr und lief in eine andere Richtung.
Im Traum hatte sie ihr nachgeschaut. Aus grauem Nebel war der Umriss einer Brücke aufgetaucht. Riesige Pfeiler wuchsen wie überdimensionale Elefantenfüße aus einer dunklen Tiefe in den Himmel. Sie wollte rufen, wollte Madeleine warnen, hinter ihr herlaufen. Aber Madeleine schien nichts zu hören, lief unbeirrt auf die Brücke zu – und verschwand.
Auch in diesem Traum konnte sie sich nicht bewegen, auch wusste sie nicht, ob ihr Rufen zu hören gewesen war. Schließlich versank Susanna in der Dunkelheit des Tiefschlafes, in dem selbst der Traum ruhte.
Ihr Wecker schreckte sie am frühen Morgen aus dem Schlaf. Sie fühlte sich erschöpft, von der näch t lichen Ruhe kaum erfrischt und musste sich zwingen, die Beine unter der Bettdecke hervorzustrecken.
Nachdem sie sich angezogen hatte, packte sie ihre Sachen zusammen und ging in das Büro des ISG. Sie musste nach vorne schauen.
»Wir werden Ihre Fortschritte mit Marcion besprechen und Sie für die nächste Stufe vormerken«, Dana machte in ihrer Datei die entsprechenden Eintragungen, »wir werden uns melden.«
»Gut, ich warte auf Ihren Anruf. Ich werde in der nächsten Zeit zwar beruflich unterwegs sein, aber ich bin flexibel.«
»Gewiss. Wir melden uns.«
»Wird es lange dauern?«
»Wir werden sehen.«
Dana nahm einen hellblauen Umschlag aus der Ablage und hielt ihn der Frau hin. Die Rechnung für die Übernachtung und die Mahlzeiten.
»Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach sie, da sie den letzten Verweis nicht vergessen hatte.
»Das wäre angebracht. Eine gute Heimfahrt wünsche ich Ihnen.«
Kurze Zeit später hatte sie sich am Bad Homburger Kreuz auf die Spur in Richtung Wiesbaden/Mainz eingeordnet und fuhr in gemäßigtem Tempo zwischen den unzähligen LKW nach Hause. Ohne den Berufsverkehr, der nachmittags einsetzen würde, war die Strecke erträglich, und so lauschte sie im Radio dem Sprecher von HR 3, der Anrufern Fragen über Musikstücke von früher stellte. Bonnie Tyler sang »It’s a heartache, no t hing but a …«
Nachdem sie die
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