Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
beschäftigt dich irgendein intellektuelles Puzzle?«
Lea schüttelte leicht abwesend den Kopf.
»Kein Lächeln heute Morgen? Ah, du grübelst noch an deinem ungelösten Fall, habe ich recht?«
»Hm.«
Lea wusste, dass sie Ullrich nichts vormachen konnte, da ihr Gesicht wie ein Teleprompter funktionierte. »Ach, es ist zum Verzweifeln, ich hätte in die Tiefe gehen und mich nicht arglos über die spontane Besserung freuen sollen. Das war ein typischer Anfängerfehler.«
Ullrich schob die Lesebrille nach oben. »Lea, übertreibst du nicht ein wenig? Keiner von uns hinterfragt eine Besserung tiefgründig, alle forschen bei einer Verschlechterung nach. Das ist genau unsere Aufgabe, uns um die Menschen zu kümmern, wenn es ihnen schlechtgeht. Und wenn alles wieder in Ordnung ist, entlässt man sie.«
»Ich weiß nicht …«
»Lea, langsam, pass auf, dass dein Gewissen dich nicht fertigmacht.« Ullrich fasste Lea beim Ellenbogen und schaute sie eindringlich an. »Das Gewissen ist wichtig, aber nur als Ratgeber.«
Lea nickte gehorsam. »Aber das ist leichter gesagt als getan«, erwiderte sie und dachte an ihre kreisenden Gedanken vor dem Einschlafen.
An der Anmeldung standen diesmal nur zwei Patienten mit Überweisungsformularen, und das Wartezimmer war recht leer. Ullrich bemerkte, dass er zu Lea durchgedrungen war und legte nach. »Los, lass uns eine kurze Pause machen, ich habe noch etwas für dich.« Er bugsierte sie in den Sozialraum, schaltete das Licht an und nahm zwei Tassen aus dem Schrank. »Zum Thema Schuldgefühle: Magna vis est conscientiae, quam qui negligent, se ipsi indicabunt .«
Lea verzog die Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln.
»Zu schwierig?«
Lea gab sofort auf. »Ullrich bitte, das übersteigt meine Fähigkeiten deutlich.«
»Gut, dann will ich heute ausnahmsweise nachsichtig sein«, neckte Ullrich sie. »Frei übersetzt bedeutet es, dass die Macht des Gewissens groß ist und dass man es nicht außer Acht lassen kann, ohne sich selbst zu verraten.«
»Alles klar.«
»Langsam, Lea. Nimm dir Zeit, da steckt Weisheit drin.«
»Ullrich, bitte, eine Interpretation.«
»Also gut, aber bei meinem alten Lateinlehrer wärst du damit nicht durchgekommen. Es heißt, man soll das Gewissen berücksichtigen, weil es als moralische Instanz immer existiert. Damit ist aber nicht gemeint, dass man sich von ihm ständig quälen lassen soll.«
»Verstehe, gescheite Römer«, musste Lea zustimmen. »Wenn die gewusst hätten, dass wir zweitausend Jahre später Berge von Werken über Schuldgefühle, Gewissensängste und Verleugnung produzieren würden, hätten sie den Spruch bestimmt in Marmor gemeißelt.«
»Haben sie sicher, auf irgendeinem Stein oder an einer Säule in Rom wird er stehen«, versicherte Ullrich entschieden, und Lea glaubte ihm. Fast jedes Jahr verbrachte er einige Tage in Rom, um auf den Spuren seiner Lieblingsdichter und Cäsaren zu wandeln.
Frau Witt erschien in der Tür. »Frau Doktor, Herr Sauer ist am Telefon, er hat wieder starke Kopfschmerzen, kann er noch vorbeikommen?«
»Ja, ist in Ordnung, er soll einfach herkommen.«
Frau Witt nickte und verließ den Sozialraum wieder. Herr Sauer hatte vor einem halben Jahr ein Akustikusneurinom in einer schwierigen und langwierigen Operation entfernt bekommen, litt aber seitdem unter Kopfschmerzattacken. Dabei hatte er noch Glück im Unglück gehabt. Dieser gutartige Tumor hatte sich frühzeitig durch eine Hörminderung, durch Schwindelanfälle und durch einen Nystagmus, ein rhythmisches Zucken der Augäpfel, bemerkbar gemacht. Allerdings hatte er sich mit seinen zweiundsiebzig Jahren weder von dem Schock durch die Diagnose noch von der Operation erholt. Lea war jedoch zuversichtlich, dass diese Beschwerden sich in absehbarer Zeit von selbst legen würden, da seine Untersuchungsergebnisse allesamt in Ordnung waren.
Ullrich war aufgestanden, um sich im Sprechzimmer der nächsten Patientin zu widmen, und so nahm Lea sich einen Stapel Papiere zur Unterschrift vor. Überweisungen zu CT-Untersuchungen, Angiographien, Ultraschalluntersuchungen und anderen Maßnahmen. Nachdem sie diesen Papierkram gleich an der Anmeldung erledigt hatte, ging sie in ihr Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Neben dem Telefon lag immer noch die Karte von Polizeioberkommissar Franz Bender.
Das Sitzen am Seeufer hatte Susanna frösteln lassen. Die Kälte des Wassers kroch unter ihren hellen Wollmantel. Der Kaschmirpullover war leicht und hielt sie
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