Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
jetzt ist noch nichts passiert, kein fremder Handlungsimpuls, wie wir Psychiater das gerne nennen. Und mein Aufenthalt im ISG ist immerhin schon fast vier Monate her.«
»Hoffen wir, dass es dabei bleibt«, sagte Bender, »aber vergessen Sie nicht, dass die Herrschaften bislang auch keinen Anhaltspunkt dafür hatten, dass ihre möglicherweise kriminellen Machenschaften entdeckt werden könnten. Das sieht nun etwas anders aus. Also passen Sie bitte auf und melden Sie sich bei Ungewöhnlichem in Ihrer Umgebung. Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas zustößt.«
Lea hatte nun verstanden, dass Kommissar Bender sich ernsthaft Sorgen um sie machte. »Ich verspreche, ich werde mich vorsehen.«
Nachdenklich ging sie zu Frederike in die Küche, die sich von der verkohlten Pizza ein Stück abgeschnitten hatte.
»Und, wie geht’s?«
Frederike kaute auf einer viel zu großen Portion herum und rollte mit den Augen. Nach geraumer Zeit hatte sich die Menge in ihrem Mund so weit reduziert, dass sie etwas halbwegs Verständliches artikulieren konnte: »Mama, so blöd war das heute wieder, ich hab für die Hausaufgabenüberprüfung super viel gelernt, und dann hat Frau Süßlau was ganz anderes abgefragt.« Empört biss sie erneut in das Pizzastück.
»Und, wie ist es den anderen ergangen?«, fragte Lea.
»Genauso. Katharina hat schon beim Abgeben der Hefte geweint.«
»Na, warten wir erst mal das Ergebnis ab, vielleicht wird es nicht so schlimm, wie du denkst.«
»Das wird schlimm, Mama, das ist so klar wie Kloßbrühe.«
Lea strich ihrer Jüngsten übers Haar und nahm sich ebenfalls von der Pizza. Jonas müsste sich wohl eine zweite in den Ofen schieben. Die Schule: ein Dauerthema. Der PISA-Schock hatte Wellen geschlagen. Plötzlich wurde die jahrelang überreizte Forderung, Lernen müsse spielerisch sein, die Lea in dieser Dimensionierung ohnehin nicht nachvollziehen konnte, ins Gegenteil verkehrt. Man wurde nun streng und verteilte schlechte Noten, um den Schülern klarzumachen, dass ein neuer Wind wehte. Aus dem kollektiven Gefühl, nicht genug für die Bildung getan zu haben, erhob sich ein neuer Leitgedanke, der freilich mehr einem Selektionsdrang als dem Impuls zur Leistungssteigerung entsprach. Das Ergebnis waren frustrierte Schüler, deren Motivation schwand, und hilflose Eltern, die sich mühten, ihren Kindern eine positive Einstellung zu Anstrengung und Leistung zu vermitteln. Aber über Schule sachlich zu sprechen, glich einem Drahtseilakt. Lea hatte die Erfahrung gemacht, dass man sofort verdächtigt wurde, die Schwächen der eigenen Kinder überdecken zu wollen, wenn man kritische Fragen stellte. Die steigende Zahl von Verhaltensstörungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen ließ erst einmal nur die Produzenten von Psychopharmaka aufhorchen.
Lea blickte in den Garten, wo Frederike nach ihrer Mahlzeit versonnen auf der Schaukel saß. Am Gartentor tauchte Marie mit ihrem Fahrrad auf. Es war 13 Uhr 30. In einer halben Stunde würde sie mit Frederike nach Wiesbaden aufbrechen müssen. Sie beschloss, die Angelegenheit mit der zweiten Pizza selbst in Angriff zu nehmen. Jonas würde ohnehin gleich mit Heißhunger aus seinem Zimmer kommen. Marie ging von der Haustür aus geradewegs zum Kühlschrank. Um das Innere besser überschauen zu können, beugte sie sich nach vorne. Leas Blick fiel auf ihre Jeans, die nur dank des Stretchanteils überhaupt an- und ausgezogen werden konnte. Welche Größe mochte das sein? Schon hatte sie wider besseres Wissen die verbotene Frage gestellt: »Sag mal, Marie, was wiegst du eigentlich?«
»Weiß nicht«, kam die verdrossene Antwort aus dem Inneren des Kühlschranks. Marie drehte sich um und hatte eine halbe Tomate in der Hand, die vom gestrigen Abendessen übrig geblieben war.
»Hier ist noch Pizza im Backofen …« Lea versuchte, die Aufmerksamkeit von Marie auf ein richtiges Mittagessen zu lenken.
»Nee danke, ich bin schon zu fett.«
»Klar, alles über einem BMI von 17 ist fett, oder was? Marie, unter einem BMI von 18 gelten junge Frauen weltweit als untergewichtig«, Lea machte eine Kunstpause. »Sogar die Modeschauen in Mailand, Paris und New York dürfen Models mit einem BMI unter 18 nicht beschäftigen.«
»Echt?« Marie sah Lea zweifelnd an. Doch das Argument schien nicht schlecht zu sein. Lea musste es sich für Frederike merken, wenn sie in die gleiche Phase käme. Marie nahm sich einen Teller aus dem Schrank und teilte mit dem Pizzaroller ein Achtel
Weitere Kostenlose Bücher