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Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)

Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Heeger
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Straßenlaternen beleuchtet, die Fahrradfahrer hatten ihre Lampen eingeschaltet. Lea zog den Reißverschluss ihrer Joggingjacke nach oben. Sie mochte es nicht, wenn die Kälte unter ihr T-Shirt kroch. Hier hatte sie mit Cleo gesprochen. Diese unangenehme Unterhaltung kam ihr jedes Mal in den Sinn, wenn sie die entsprechende Stelle am Rheinufer passierte. Möglicherweise hatte sie doch etwas mit den Todesfällen zu tun, und dieser ganze Zauber von wegen spiritueller Entwicklung und das ganze Theater waren nur Tarnung gewesen? Lea kickte einen Stein die Uferböschung hinunter, und Lilly sprang, erfreut über die Abwechslung, hinterher. Die Helfer und die Hilfsbedürftigen, die Leidenden und die Heiler. Wer wollte schon entscheiden, wer zu der einen und wer zu der anderen Gruppe gehörte? Ein Deutungsansatz kam ihr in den Sinn, den Elisabeth zu der Tarotkarte des Gehängten referiert hatte: »Man soll in einer unmöglichen Situation erkennen, dass man seinen eigenen Willen und sein eigenes Denkvermögen aufgeben muss und nichts tun kann, als der universellen Kraft des Wachsens und der Entwicklung zu vertrauen.«
    Nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, dass sie einmal, einer Marionette gleich, dem Willen anderer gehorchen würde. Lea sah in den Nebel über der Wasseroberfläche und spürte, wie sie ein Gefühl für Elisabeths Worte bekam. Es muss ja nicht gleich so pompös daherkommen wie Odin an der Weltesche, dachte sie, es konnte auch Lea am Rhein sein. Aber ein Körnchen Wahrheit, vielleicht auch mehr davon, steckte womöglich schon in diesen Botschaften.
    Unterhalb ihrer Laufstrecke donnerte ein Zug über die Eisenbahnbrücke.
    Das Opfern der eigenen Vorstellungen, auch der Vorstellung von der eigenen Person, den Zielen und der vermeintlichen Selbstbestimmung. Die umgekehrte Sichtweise, die manchmal wahre Erkenntnisse ermöglichte – war es das, was Elisabeth beschrieben hatte, die Bedeutung des Gehängten?
    Hinter ihr bellte Lilly einen Dackel an. Lea fühlte sich auftauchen aus den Nebeln des Rheins, aus den Ästen der Weltesche, aus dem Sumpf der verwirrenden Gedanken und Trugbilder. Sie konzentrierte sich wieder auf den asphaltierten Weg vor ihren Füßen. Doch weiter klangen ihr Elisabeths Worte im Ohr: »Die Zahl 12, der Gehängte, das weist auf einen inneren Veränderungsprozess hin.« War das mit ihr passiert? Konnte ihr das irgendjemand beantworten? Lea lief am Winterhafen vorbei. Die Boote waren fest an ihren Liegeplätzen vertäut und schaukelten sacht auf dem Wasser. Sie hatte zumindest überlebt, das war doch schon mal was. Wie hieß das, was Milva vor ewigen Zeiten gesungen hatte? »Hurra, wir leben noch«? Genau: sie lebte noch.
    Lilly war zurückgeblieben und schnupperte wieder mal an einer überaus interessanten Stelle. Aus der Entfernung konnte Lea eine McDonald’s-Tüte erkennen; wahrscheinlich war der Inhalt schon leicht vergammelt und also umso aufregender für einen Hund. Sie blieb stehen. Durch die Kälte hatte sie kaum geschwitzt, die frostige Luft kroch beim Warten an ihr hoch. Der Rhein war fast schwarz unter dem Nebel, sein Wasser floss gemächlich in Richtung Nordsee. Nur die Bojen saßen wie bunte Farbtupfer auf der dunklen Fläche. Rote Bojen für die rechte Fahrspur, grüne für die linke, gelbe für die Untiefen. Insbesondere gelbe Bojen wären für die Orientierung im Zwischenmenschlichen gar nicht schlecht, dachte Lea.
    Wie ein grauer Schatten mit unsauberen Umrissen zog sich die Theodor-Heuss-Brücke über den Fluss. Die Signallampen für die Lastkähne und die Lichter der Fahrzeuge auf der Brücke mischten sich zu einer bunten Lichtergirlande. Über dem Industriegebiet sah man Dampfwolken in den Himmel steigen. Leas Blick folgte den weißen Gebilden, bis sie sich im dichten Wolkenteppich auflösten. Vielleicht war Sterben genauso? Man löste sich auf, wurde eins mit allem und war als Individuum nicht mehr erkennbar, obwohl man noch immer vorhanden war. Über der Brücke fanden sich die ersten Vogelschwärme in Formationen zusammen, um nach Norden zu ziehen. Ob es bei Vögeln gleicher Art auch Außenseiter gab, die ihren Platz in der Formation nicht fanden? Als sie auf die exakten Winkel und Bögen der Vogelfluglinie sah, konnte sie sich so etwas kaum vorstellen. Plötzlich vollführten die Vögel eine spiralförmige Bewegung, die einem Looping bei einer Flugschau ähnelte, und flogen in einem großen Bogen in Richtung Taunus. Lea schaute ihnen nach. Unerwartet

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