Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
durchströmte sie ein intensives Glücksgefühl. Sie stand hier! Sie atmete die frische Luft! Sie hatte überlebt!
»Lilly! Lilly! Komm, ab nach Hause!«
Lilly ließ sich Zeit beim Herantrotten und blickte Lea erstaunt an. War das etwa die Ankündigung für einen Hundekeks? Da Lea überhaupt nicht in der Stimmung war, irgendjemandem einen Wunsch abzuschlagen, angelte sie einen aus ihrer Hosentasche. Lilly schmatzte zufrieden.
Den ganzen restlichen Weg nach Hause lief Lea in einem Tempo, bei dem Lilly kaum Schritt halten konnte. Sie rannte, sie hörte ihren Atem, ihr Herzschlag drang zum Innenohr vor. Da war kein Nachdenken mehr. Erst am Gartentor stoppte sie und wartete einige Sekunden, bis sie wieder genügend Luft hatte. Es war gut. Jetzt war es gut.
Sie schloss die Haustür auf, gab Lilly Futter und ging die Treppe nach oben zu Frederike, die mit geröteten Wangen im Bett lag und fest schlief. Das Mädchen würde zwei Tage lang viel schlafen, danach aufwachen und gesund aus dem Bett springen. Kinder konnten das, die wussten noch, wie es ging. Vielleicht hatten die Erwachsenen es verlernt, das Gesundschlafen, den komaähnlichen Zustand, in dem der Körper sich auf nichts anderes zu konzentrieren scheint als auf den Gesundungsprozess. War das die Kraft des Wachsens, die Kraft des Lebens überhaupt? Sie strich Frederike eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und ging dann unter die Dusche.
Eine halbe Stunde später parkte Lea ihren Wagen in der Nähe der Praxis; diesmal hatte sie sogar die Auswahl zwischen zwei Parklücken. Sie schaute suchend zum Bella Romana hinüber. Die Tür stand offen, aber Giulio war nirgends zu sehen. Obwohl die Zeit knapp war, beschloss Lea, kurz hineinzugehen. Zu lange hatte sie den Italiener nicht mehr gesehen. Sie musste wissen, ob es ihm gutging. Im Lokal war ein Angestellter mit längeren Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er war dabei, die Tische für das Mittagessen zu decken.
»Hallo, Angelo«, sie kannte den gutaussehenden jungen Mann. »Ist Giulio nicht da? Hat er Urlaub?«
Angelo legte den Stapel Servietten, den er in der Hand hatte, auf den Tisch und kam auf Lea zu.
»Nein, leider nicht. Er musste nach Hause fliegen. Sein Schwager ist verunglückt, Motorradunfall. Jetzt geht alles drunter und drüber. Die Bambini sind noch klein, und seine Schwester weint nur. Sie kann nicht mehr sprechen.«
»Die arme Familie.«
Es gab keine wahren Worte für Katastrophen, nur falsche.
»Wissen Sie, wann Giulio zurückkommt?«
»Nein, er hat noch nichts gesagt.«
»Bestellen Sie ihm bitte liebe Grüße – und dass ich ihm gerne helfen würde.«
»Si, Dottoressa.« Angelo nickte und drehte sich um, um weiter den Tisch mit Servietten zu bestücken.
Die Praxis war überfüllt. Im Wartezimmer schrie der kleine Sohn einer Patientin wie am Spieß, da ein anderes Kind ihm das begehrte Feuerwehrauto nicht überlassen wollte. Die Mutter hielt das schreiende Bündel mit Gewalt auf dem Stuhl zurück. Lea gab Nora ein Zeichen, das die Bitte ausdrückte, einzuschreiten. Nora hatte ein Händchen für Kinder. Sie besaß eine natürliche Autorität, die Kinder sofort akzeptierten. Sie ging zu dem Jungen, beugte sich zu ihm hinunter und sagte etwas. Augenblicklich wurde er ruhig, und sein von Anstrengung und Zorn gerötetes Gesicht nahm wieder die normale Farbe an. Die Mutter ließ den Jungen los, und im selben Maß, wie die Verkrampfung des Jungen sich löste, entspannten sich auch ihre Gesichtszüge. Der Junge ging mit Nora an der Hand zur Spielzeugkiste in der Ecke des Wartezimmers. Er deutete auf ein leicht zerzaustes Plüschkrokodil, dem ein weißer, langer Stoffzahn aus dem nilgrünen Maul hing. Als er das Krokodil feierlich von Nora gereicht bekam, ging er mit zufriedenem Gesicht zurück zu seiner Mutter und setzte sich neben sie. Ganz ruhig saß er, nur die Beine schlenkerten ein wenig vor und zurück. Er streichelte das Krokodil. Nora kam zurück zum Tresen.
»Was haben Sie ihm gesagt?« Lea war neugierig auf die magischen Worte.
»Das war ganz einfach.« Nora sah Lea verschmitzt an. »Ich habe ihn überrascht, das funktioniert immer.«
»Und wie? Nora, bitte!«
Nora senkte verschwörerisch die Stimme, so dass niemand in der Umgebung sie verstehen konnte. »Ich habe ihm Folgendes gesagt: ›Ich bin die gute, weiße Fee. Ich weiß ganz sicher, dass du ein Prinz bist. Aber das ist unser großes Geheimnis! Niemand anderes weiß davon.‹«
»Na, so was!
Weitere Kostenlose Bücher