Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Verdachtsdiagnose.
»Wir schicken den NAW sofort los, alles klar.«
Lea blieb noch einen Moment im Auto sitzen, auf die Minute kam es jetzt auch nicht mehr an. Dann schloss sie ihr Fahrzeug ab und ging in Richtung Eingang, um dem unangenehmen Regen und der durchdringenden Kälte schnell zu entkommen. An der Anmeldung trug sie sich in die Liste ein, nahm eine Teilnahmebescheinigung für den Fortbildungsnachweis bei der Landesärztekammer vom Stapel und versuchte, ihren Mantel in einer Ecke aufzuhängen, die von der Wärme der Heizung erreicht wurde. Die Vorstellung, sich später mit einem feuchten Mantel in ein kaltes Auto setzen zu müssen, hatte etwas zutiefst Unbehagliches.
Die Wohnung im Mainzer Stadtteil Gonsenheim war in den letzten Jahren Susannas Zufluchtsort gewesen. Sie fand dort inmitten ihrer Kunstdrucke, Bilder und Bücher die Ruhe, nach der sie sich sehnte. Die Begegnung in der Eingangshalle beschäftigte sie noch. Diese merkwürdige Ähnlichkeit der Frau in der Halle des ISG mit Ellen. Drei Jahre hatte sie mit Ellen verbracht. In ihrem Leben war danach nichts mehr gewesen wie zuvor. Ellen hatte ihr Dasein in regellose Fragmente zerlegt. Doch sie hatte es zugelassen, und die Frage, warum, hoffte sie nun bald beantworten zu können. Sie war naiv gewesen in dem Glauben, dass sie nach dieser Zeit zurückfinden würde in ihre Welt.
Sie griff nach einem Band über Marc Chagall, sie liebte seine Bilder. Doch eines besonders: »Der Jongleur«, der Vogelmensch mit Flügeln, aus dem Jahr 1943, der dem märchenhaften Aspekt dieser begnadeten Küns t lerseele Ausdruck verlieh. Die Sehnsucht, sich in der Welt der Phantasie zu verlieren. Damals bei Chagall war es Flucht vor der Wirklichkeit des Krieges gewesen. Sie nahm das Buch mit zum Couchtisch und legte es aufgeschlagen auf die kunstvoll gearbeitete Intarsienarbeit, die auch ihren Sekretär zierte.
Ellen.
Konnte es wirklich nach den vielen Jahren eine Begegnung mit der Person sein, die so mi t leidslos in ihr Leben eingegriffen hatte? Fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, doch sie erinnerte sich an den ersten Tag ihrer Begegnung wie an einen Film, den man sich zum hundertsten Mal anschaut. Beeindruckt war sie gewesen, von der selbstsicheren Ausstrahlung, dieser Mischung aus Abenteuerlust und Verachtung für alle Spielregeln. Das neue Mädchen in der Klasse. Lange Beine, Minirock, glatte schulterlange Haare. Der spöttische Zug um den Mund hatte sich in ihrem Blick wiederholt und ihr den Ausdruck von Überlegenheit verliehen. Sie war sofort zur Anführerin in der Klasse geworden. Sie hatte intrigiert, verführt und innerhalb kurzer Zeit ihre Umgebung beherrscht.
Zu ihr war sie auf eine einschmeichelnde Weise freundlich gewesen. Susanna war gefangen gewesen von dieser starken Persönlichkeit, die mit ihrem sicheren Gespür für Macht und Unterordnung alle unter ihre Kontrolle gebracht hatte. »Die hat’s drauf«, bewunderten sie auch die Jungs. Es war ihre Selbstsicherheit, auch den Erwachsenen gegenüber, die radikale Selbs t bestimmung, die nur ein skrupelloser Charakter leben kann.
»Susanna, du bist eine verwunschene Prinzessin«, hatte sie zu ihr gesagt, »ich werde dich wachküssen.«
Sie hatten gelacht und sich umarmt.
Erst viel später hatte Susanna verstanden, dass diese Liaison zwei Personen betraf, von denen die eine nicht wirklich existent war. Sie war stolz darauf gewesen, dass gerade sie die auserwählte Freundin sein sollte.
»Warum lässt du dich von Ellen so einwickeln?«, hatte Manuela, eine ihrer besten Freundinnen, sie gefragt.
»Weil Ellen kein Kind mehr ist. Sie weiß, was sie tut«, hatte sie geantwortet, mit den Schultern gezuckt und war quer über den Schulhof zu Ellen gelaufen. Lächelnd hatte die neue Freundin ihre Hand genommen und sie wie eine Trophäe mit sich genommen.
Damals hatte sich ihr Leben verändert, kaum spürbar, schleichend hatte dies begonnen. Durch das Zusammensein mit Ellen, durch Äußerungen, durch eine Mischung aus Lob, Tadel und Maßregelungen sah sie ihre Umgebung nach und nach in einem anderen Licht. Die Farben wurden blasser. Es zogen Schatten ein, es wurde eine Dunkelheit erschaffen, die bedrohlich wirkte. Ihre Welt hatte sich zu einem Gefängnis gewandelt. Und am Anfang war die Eifersucht gewesen – »Ich bin deine beste Freundin, nicht wahr, Susanna?«
Sie stellte das Buch über Chagall wieder in das Regal zu den anderen. Es schien ihr jetzt unpassend. Sie war nicht über die Abgründe
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