Merani und die Schlange unter dem Meer
Eilande frei, die später den Archipel von Runia bilden sollten. Allerdings war weit und breit kein fruchtbarer Boden mehr zu sehen, sondern nur noch kahles Felsgestein und ein wenig Erde, die sich in Spalten und Klüften gehalten hatte. Dort spürte sie nun einzelne Sporen und Samen, die der Vernichtung getrotzthatten. Das einzige Leben, das Merani außer den ersten Keimlingen wahrnahm, war ein junges, durch einen Versteinerungszauber erstarrtes Salasa, das von den Wellen an den Strand einer kleinen Insel gespült wurde. Da es blau war, musste es sich um Timpo handeln.
Nun würde das Tierchen Jahrtausende am Ufer dieser Insel liegen bleiben, bis es von Merala gefunden und durch deren Magie entsteinert wurde. Bei dem Gedanken kamen Merani die Tränen. Timpo war höchstwahrscheinlich das einzige Wesen aus jener Zeit, das noch existierte. Dann erinnerte sie sich an die beiden Mädchen im Meer und wollte dorthin schauen. Statt ihrer aber erhaschte sie einen letzten Blick auf die sterbende Schlange, deren zu Kristall erstarrter Leib halb in den Grund des Meeres eingesunken war. Das Ding schimmerte in sämtlichen Violetttönen und zog Magieströme an, die aus einem tiefen Riss im Meeresboden kamen.
Mit einem Mal begann die Zeit wieder in Windeseile zu vergehen. Um Merani herum wuchsen die ersten Büsche und Bäume des späteren Hexenwaldes. Das Land wurde wieder bewohnbar, und es kamen neue Siedler über das Meer. Es handelte sich um Diener Ilynas, doch es waren keine blauen Runi mehr, sondern Menschen und andere Geschöpfe, die Merani unbekannt waren. Diese lebten jedoch nicht lange dort, denn weiße, gelbe und grüne Runi vertrieben die blauen und besiedelten selbst einige Inseln. Ilyndhir aber blieb für lange Zeit ein leeres, unbesiedeltes Land. Als erneut Menschen erschienen, waren es Leute in schlichten Kitteln und Sklavenkrägen, die unter der Knute von Gurrländern in schweren Rüstungen ächzten.
Merani wunderte sich nicht, die gleichen Abzeichen zu erkennen wie bei dem toten oder schwerverletzten Gurrländer, den sie während der Fahrt nach Ilyndhir in einer Vision gesehen hatte. Als Letztes erkannte sie noch ihre Ahnin Meravane sowie deren Helfer Ilna und Ward, die mit Hilfe weißer Runi die Sklavenkrägen zerbrachen und ihr Volk zur Rebellion aufriefen. Dann wurde es dunkel um sie.
10
Merani erwachte in einem Zustand, der sie wünschen ließ, sofort wieder einzuschlafen. So erschöpft wie in diesem Moment hatte sie sich noch nie gefühlt. Da flößte jemand ihr Wasser ein. Sie schluckte hastig und rief geistig nach mehr.
»Linirias sei Dank, du bist wieder wach«, hörte sie Careedhal rufen.
»Was war los?«, fragte Merani.
»Das sollten wir lieber dich fragen. Bei Linirias, Giringar und Ilyna, hast du uns erschreckt! Ich dachte, du wolltest das Ritual der geistigen Reinigung durchführen, doch du bist fast einen Tag lang wie erstarrt dagesessen, und dein Geist war sehr weit weg. Ich habe nur noch ein magisches Band gespürt, das von dir ausgegangen ist, so ähnlich wie das, welches Timpo mit deiner Urgroßmutter verbindet. Aber es schien nicht irgendwo in der Ferne zu enden, sondern in …« – Careedhal schluckte, bevor er den Satz zu Ende sprach – »… in einer anderen Zeit.«
»Du meinst in der Vergangenheit«, präzisierte Merani seine Aussage.
Ihr Freund nickte. »So habe ich es empfunden.«
Bevor Merani darauf antworten konnte, drängte sich Qulka dazwischen. Das Gurrlandmädchen stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihre Herrin zornig an. »Was habt Ihr Euch dabei gedacht, einen so gefährlichen Zauber zu machen? Ich bin aus Sorge um Euch beinahe gestorben.«
»Das wäre nicht nötig gewesen«, antwortete Merani matt. »Ich befand mich keinen Augenblick in Gefahr, sondern habe alles nur als Geist erlebt. Ihr erinnert euch doch an die Erzählungen unserer Eltern von der Illusion der fruchtbaren grünen Insel, die einmal dort gewesen sein soll, wo heutzutage die magischen Stürme entstehen?Ich habe gesehen, wie diese Insel einmal ausgesehen hat – vor sehr, sehr langer Zeit! Damals waren die südlichen Inseln übrigens ein einziges großes Eiland, das von Gelben bewohnt wurde.«
»Igitt!«, kreischte Argeela auf. »Das ist unmöglich. Unsere Heimatinseln sind violett, hörst du? Violett!«
»Das sind sie heutzutage. Aber damals war alles ganz anders. Ich kann es nicht erklären und habe auch keine Lust, mich zu streiten. Kannst du mir noch etwas Wasser geben, Qulka?
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