Mercy, Band 2: Erweckt
Frotteekleid häng t – ein Outfit für die Wellness-Oase. Vermutlich will sie damit ihre Figur verdecken, von ihrer natürlichen Schönheit ablenken.
Mit einem scheuen Lächeln zieht sie den Riemen ihrer biederen schwarzen Lederhandtasche höher auf die Schulter. „Gut, dass ich dich eingeholt habe“, sagt sie. „Gehst du in die Pause?“
Ich schüttle den Kopf, bringe noch immer kein Wort heraus. Justine hat mich so stark an jemanden erinnert, den ich einst kannte, dass ich seinen Namen fast laut ausgesprochen hätte. Fast. Aber leider ist er mir, wie beinahe alles andere in meinem Kopf, entfallen, bevor ich ihn fassen konnte.
Lelas Stimme klingt selbst in meinen Ohren merkwürdig, als sie endlich den Mund aufkriegt. „Äh m … wolltest du was Bestimmtes von mir?“
„Ehrlich gesagt, ja“, sagt Justine, und ihr Lächeln gerät ins Wanken, als sie mein Gesicht sieht. „Ich habe darüber nachgedacht, was du heute Morgen über dei n … ä h … Gedächtnisproblem gesagt hast.“
Ich erwidere misstrauisch. „Ja? Und?“
Justine räuspert sich. „Ähm, also, ich wollte dir helfen, auch wenn es nichts Großartiges ist. Ich bin nie dazu gekommen, mich richtig bei dir zu bedanken. Er war nicht mehr da, sei t … seit dem Tag damals. Vielleicht bist du ja mein Glücksbringer oder so?“
„Keine Ahnung“, erwidere ich. Nur gut, dass Cecilia mich einigermaßen über Justines schlimme Vergangenheit aufgeklärt ha t – ein Albtraum für jede Frau, wenn der Mann, den sie liebt, sich gegen sie wendet. „Das sind gute Nachrichten, Justine. Ich hab dir sicher oft genug gesagt, dass du aus de m … Geschäft aussteigen sollst, oder?“
Justines Lächeln erlischt jetzt ganz. „Nicht nur du, das kannst du mir glauben. Mum redet deswegen nicht mehr mit mir. Aber man braucht eben keine Ausbildung dafür, das ist der Punkt. Ich bin zu alt und zu dumm und zu faul, um was anderes zu machen.“
„Wenn du das glaubst, wird es auch so bleiben“, sage ich.
Statt einer Antwort kommt nur ein brüchiges Lachen. „Ja, gut, ich hab’s kapiert. Also jedenfalls wollte ich dafür sorgen, dass du heil nach Hause kommst.“
„Woher weißt du, dass ich Hilfe brauche?“, frage ich überrascht. „Kann es sein, dass dich jemand geschickt hat?“ Es soll ein Witz sein, aber kaum sind die Worte heraus, kehrt das seltsame Gefühl zurück.
Justine schnaubt. „Geschickt? In dieser Aufmachung?“ Sie streift den elastischen Stoff ihres Frotteekleids ein Stück herunter und zeigt mir den oberen Rand eines steifen, schweren BHs, der nur so strotzt vor buntem Strass und Pailletten. „Das soll sexy sein“, sagt sie mit einem gekünstelten Lachen. „Na ja, für perverse alte Säcke vielleicht.“ Dann zieht sie das weiße Frotteekleid wieder bis unter die Achseln hoch.
Und jetzt erinnere ich mich. Luc war da. In meinem Traum. Auch er hat mir seine Hilfe angeboten. Nur muss ich vorher etwas für ihn tun. Aber was?
Justine räuspert sich und meine Gedanken verflüchtigen sich wie Rauch.
„Ich bin rausgegangen, weil ich mir was zu essen holen wollte“, sagt sie, „aber ich wollte dir auch zeigen, wo die Bushaltestelle ist, damit du sie findest, wenn du heute Abend nach Hause fährst. An deiner Stelle würde ich lieber an der Ampel über die Straße gehe n – meine Wenigkeit ist ja dann nicht da, um dich rüberzulotsen, und du kommst mir heute irgendwie so planlos vo r …“
„Nein, warte“, sage ich, immer noch ziemlich durcheinander. „Ich bin gerade auf dem Weg. Du kannst mich hinbringen, wenn du willst.“
Justine schaut mich durchdringend an. „Ist was nicht in Ordnung zu Hause?“
Ich nicke und ihr Gesicht wird traurig vor Mitgefühl. Sie will meine Hand nehmen, aber ich weiche instinktiv einen Schritt zurück und sie dann auch. Justine kennt sich aus mit unerwünschten Berührungen und reagiert sofort auf Warnsignale.
„Da lang“, sagt sie sanft und zeigt mit dem Finger in eine Richtung. Ihre kurzen, unlackierten Nägel von heute Morgen haben sich in lange bonbonrosa Acrylkrallen verwandelt, mit Strasssteinen an den Spitzen.
Seite an Seite gehen wir ungefähr hundert Meter den Hügel hinauf, bis wir zu einer großen Kreuzung kommen. Justine deutet auf eine andere vierspurige Straße, auf der reger Verkehr herrscht.
„Dort drüben ist die Haltestelle, direkt vor dem Hotel an der Ecke“, sagt sie. „Da musst du einsteigen.“ Mit einem flüchtigen Lächeln dreht sie sich um und geht wieder die Straße
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