Mercy, Band 2: Erweckt
hinunter, in Richtung Green Lantern . Ihr Gang ist von einer unbewussten, tänzerischen Anmut.
„Warte!“, rufe ich und Justine dreht sich so abrupt um, dass ihre Handtasche an der Hüfte schlenkert. „Also ich suche was, wo man Zugang zu diesem elektronischen Universum mit den vielen Informationen ha t …“
Justine starrt mich fragend an, und ich verbessere mich hastig. „Zu diese m … ä h … Inter…ne t … kannst du mir sagen, wo ich so was finde?“
Ihr Gesicht hellt sich auf. „Hier, der Nudelimbiss an der Ecke.“ Sie zeigt die Straße hinunter in die Richtung, in die sie unterwegs ist, mit einer Hand beschattet sie ihre Augen. „Direkt am Green Lantern vorbe i – das Schild mit der Nudelschale drauf?“
Ich spähe in die Nachmittagssonne, ohne zu blinzeln. Weiter unten an der hektischen Straße, an der wir stehen, kommt eine zweite Kreuzung, aber diesmal mit einer engen Einbahnstraße. Soweit ich erkennen kann, besteht diese Stadt aus einem gleichmäßigen Raster von schnurgeraden Linien. Für jemanden mit meinen besonderen Fähigkeiten ist es ein Kinderspiel, sich das Straßenbild einzuprägen. Das Happy Noodle House steht an der Ecke auf unserer Seite der Einbahnstraße. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der engen Durchgangsstraße, liegt ein pompöses, aber etwas heruntergekommenes Theater, in dem alle Lichter brennen, weil gerade eine Matinee läuft.
Justine zeigt zwischen den beiden Gebäuden hindurch, und ich sehe einen Torbogen in Blau-, Rot-, Grün- und Ockertönen mit einem Keramikziegeldach, das wie ein Pagodendach geformt ist. Dann deutet sie wieder in die Einbahnstraße zurück, den Hügel hinauf, weg vom Theater, und dort folgt ein anderer Torbogen. Eine ganze Reihe von Torbögen.
„Das ist Chinatown“, sagt sie. „Du biegst bei dem Noodleshop um die Ecke und ungefähr auf halbem Weg den Block runter ist ein Internet-Café. Es hat die ganze Nacht geöffnet, wie die meisten Lokale hier. Aber ich würde nich t …“ Sie hält inne, dann sagt sie verlegen: „Ich weiß nicht, ob du da reingehen solltest, so wie d u …“
„Mach dir keine Sorgen, ähm, Juz“, entgegne ich schnell. „Ich kann schon auf mich aufpassen. Ich bin stärker, als ich aussehe, ehrlich. Das ist okay.“
Zweifelnd sieht sie mich an, aber etwas in meiner Miene scheint Justine zu überzeugen und ihr Gesicht entspannt sich. „Okay, wenn du meins t …“, sagt sie, winkt mir über die Schulter zu und marschiert davon.
Ich drücke auf den Knopf der Fußgängerampel. Die heiße Nachmittagssonne brennt auf meiner Haut und löst für einen Augenblick ein tiefes, körperliches Wohlbehagen in mir aus.
Die Ampel schaltet auf Grün und rattert wie ein Maschinengewehr. In dem Moment wird mir klar, wie hoch der Berg ist, der vor mir liegt, und das schöne Gefühl verschwindet.
Luc, mein Liebster. Hilf mir! Was in aller Welt soll ich tun?
Ich atme tief ein und stürze mich entschlossen in den Verkehr. Lange bevor ich die andere Seite erreicht habe, wird die Ampel wieder rot.
Als ich diesmal den Busfahrer bitte, mir Bescheid zu geben, wenn wir die Haltestelle Bright Meadows erreichen, ernte ich keinen seltsamen Blick. Er sieht mich überhaupt nicht an, grunzt nur und wedelt mit der Hand in meine Richtung, was ich als Zustimmung deute.
Ich sehe aus dem Fenster, während wir durch die Vororte gondeln, die ich heute Morgen schon in umgekehrter Richtung durchquert habe. Ich bin die Einzige im Bus, bis wir Green Hill erreichen, und ich nehme die Frau, die dort einsteigt und sich ein paar Reihen hinter mich setzt, kaum wahr, weil ich so fasziniert von dem Anblick draußen bin. Von den schmutzigen Einkaufsmeilen und heruntergekommenen Wohnsiedlungen, den abblätternden Werbetafeln und knalligen Tankstellen, den verlebten Gesichtern der Leute, den Autos, die um uns herumjagen, ja, sogar dem Gestank der stickigen, verschmutzten Luft, die sich durch das einzige offene Fenster hereinzwängt. Alles ist zugleich schmuddelig und überwältigend schön, als sähe ich es zum ersten Mal. Als sei ich wirklich wac h …
Aber das kann nicht sein. Weil ich unter einem extremen Fall von posttraumatische r – wie war noch das Wort in dem Internet-Artikel über Carmen Zappacosta ? –, ja, genau: Amnesie leide. Aber warum erinnere ich mich dann an Lucys hässlichen Wohnblock oder an den Geruch des Kopfschmerz-Parfüms, das Susannahs Mutter so gerne nahm? Und ich habe sogar Erinnerungen an meine Susannah-Zeit, als ich einen
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