Mercy, Band 2: Erweckt
Buchladen führte und stricken lernte. Nur von meinem Leben als Carmen weiß ich gar nichts, egal wie behutsam ich in mir suche. Ich finde nur totale Leere.
Plötzlich spüre ich etwas. Eine Energie, heiß und kalt zugleich, die mir die Haare sträubt, ein Sirren, wie Essig in meinen Knochen. Fern noch, aber es kommt näher, unglaublich schnell, der Sog der Empfindungen, die mich überwältigen, wird immer stärker.
Ich sehe mich hastig nach der Quelle um, und mein Blick streift das Gesicht der mittelalten Frau, die hinter mir sitzt und sich erschöpft mit einer glänzenden Broschüre Luft zufächelt. Ihre andere Hand liegt auf der Tasche in ihrem Schoß. Ich schätze sie auf etwa fünfzig, ihr dickes, welliges, weizenblondes Haar ist zu einer pflegeleichten Kurzhaarfrisur geschnitten, wie es bei den europäischen Royals in den 1980er-Jahren in Mode war. Sie ist mittelgroß, pummelig und trägt eine kurzärmlige geblümte Bluse, eine runde Schildpattbrille, tomatenroten Lippenstift. Selbst von hier aus rieche ich Fresienduft und Gesichtspuder. Sie heißt June, wie das Namensschild an ihrer Bluse verrät, und schaut aus dem Fenster.
Was immer ich spüre, ist nicht bei uns im Bus.
Ich spähe nach draußen und da sehe ich ihn: einen Lichtklecks, ein schmutziger kleiner Spritzer Leuchtkraft, streunender Energie, der über die Dächer von geparkten Autos streicht, an Straßenschildern und Ladenfenstern abprallt, der manchmal unser Fahrzeug überholt, dann wieder zurückfällt, als wollte er den Bus im Auge behalten.
Nein!, schießt es mir durch den Kopf. Nicht den Bus, mich ! Als wollte er mich im Auge behalten.
Ich drücke meine Nase an der schmierigen Scheibe platt und folge dem Fleck mit den Augen, so gut ich kann, bis mir klar wird, dass er gar nicht die Absicht hat, mir zu entkommen. Im Gegenteil, ich soll ihn sehen. Und wieder spüre ich das seltsame Prickeln, dieses Dröhnen, als ob mir gleich der Kopf platzt. Es wird immer stärker, bis ich nur noch das scharfe Pling! Pling! Pling! höre, mit dem das Ding in rasendem Tempo draußen in der Welt der Materie herumschießt.
Wie etwas Metallisches ist dieses Geräusch, kaum zu ertragen, schlimmer als ein Fingernagel auf der Wandtafel oder Stahl auf Stahl, aber der Busfahrer schreckt nicht aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf, und auch die Frau hinter mir zeigt keine Reaktion. Sie fächelt sich weiter Luft zu, starrt blind aus dem Fenster, tief in Gedanken versunken. Sie hören, sehen, fühlen nichts. Wie ist das möglich?
Wenn es nicht aufhört, schreie ich. Oder ich muss kotzen.
Qualis es tu ?, denke ich, mit den Zähnen knirschend. Was bist du?
Und dann, plötzlich, mit einem Geräusch wie ein Überschallknall in meinem Kopf, verschwindet der Lichtklecks, der dem Gesetz der Schwerkraft spottet. Ich werde in meinem Sitz nach hinten gerissen und im selben Moment spüre ich einen heißen Atemzug im Nacken.
Te gnovi , knurrt etwas in meinem Kopf. Ich habe dich erkannt.
Kapitel 6
Ich habe selten Angst und ich bin nicht auf den Mund gefallen. Beides gehört zu meiner Grundausstattung, meinem Fundament. Genauso wie die Tatsache, dass ich von Natur aus stark bin und keine Kälte spüre, auch wenn ich nach Licht und Sonne lechze, mit einem Verlangen, das an Anbetung grenzt. Manche Dinge lassen sich offenbar nicht löschen, nur die höheren Aspekte meiner selbs t – mein Name, meine Erinnerungen, meine Gefühl e –, können manipuliert werden. Aber jetzt, in diesem Augenblick, bin ich starr vor Entsetzen.
Und die Kreatur spürt meine Angst, denn sie lacht, ein schrilles, schneidendes Lachen, so quälend, dass ich mir die Trommelfelle zerfetzen möchte.
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine blitzartige Bewegung wahr, und die Frau, die gerade noch drei Reihen hinter mir saß, schlüpft auf den Platz neben mir. Die Welt um uns, ja, die Zeit selbst, stehen still. Der trübe Lichtspritzer, der mich von außen belauert hat, ist jetzt in ihrem Körper.
Soror!, ruft das Wesen im Körper der Frau meinen Geist an. Schwester . Seine wahre Stimme ist wie das Brüllen einer Bestie. Ich kann kaum verstehen, was es sagt.
„Du verwechselst mich“, stoße ich endlich hervor. Ich muss meine Lippen zwingen, diese Worte zu formen. Sie laut auszusprechen, kommt einer Kriegserklärung gleich.
Die Kreatur lacht, ein knirschender Laut, wie Stahl auf Stahl. Durch den Mund der Frau erwidert sie: „Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinde n – das weißt du so gut wie
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