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Mercy, Band 2: Erweckt

Mercy, Band 2: Erweckt

Titel: Mercy, Band 2: Erweckt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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ich.“
    Das Wesen, das Junes Gesicht trägt, packt Lelas Hände, und ich zucke zurück, als hätte mich eine Gewehrkugel getroffen. Dann nichts mehr, nichts als Rauschen und Flimmern, das Ende der Welt. Ich bin wie der ruhende Punkt in einem wirbelnden, kreischenden Universum. Meine linke Hand wird unerträglich heiß, fängt an z u … brennen.
    Aber auch in der Kreatur geschieht etwas, denn ihre geborgte Haut steht in Flammen, von meinem Feuer entfacht, und sie kann mich nicht festhalten, obwohl sie es will, schreiend vor Schmerz und Verwirrung. Ein Flammenvorhang lodert zwischen uns auf, ein leuchtendes Kraftfeld, als wäre ein Stern im Bus explodiert und wir beide mittendrin. Dann lässt die Kreatur los, und sofort kehrt wieder Stille ein, während wir keuchend voneinander abfallen. Jetzt weiß ich wieder, warum ich Berührungen hasse. In einem unbewachten Moment kann ich jeden Menschen durch seine Haut erspüre n – seine Gedanken, seine Gefühle und sogar seine Erinnerungen sind für mich ein offenes Buch.
    Was übrigens auch andersherum funktioniert: Wer die Technik beherrscht, kann ebenso in mir lesen. Und das hat die Kreatur gerade versucht, aber irgendetwas ist schiefgelaufen. Etwas, womit keiner von uns beiden gerechnet hat.
    Stumm klemme ich meine schmerzende linke Hand unter die rechte Achsel. Die Kreatur starrt fassungslos auf Junes rote, verbrannte Hände, ihr Atem geht rau und unregelmäßig.
    „Wer bist du?“, keucht sie. „Was hat man dir angetan?“
    Ein uraltes Wissen leuchtet aus den unscheinbaren grauen Augen der Frau neben mir, und auf einmal wird mir klar, dass die Kreatur, die von ihr Besitz ergriffen hat, so etwas sein muss wie ich. Vor meinen Augen hat sie Junes Seele gekidnappt, auf die gleiche Weise, wie ich es zuvor bei Lela Neill gemacht habe.
    Der Gedanke, dass ich vielleicht meinesgleichen vor mir habe, elektrisiert mich. Etwas Abgefallenes, Verlorenes. In all meinen Jahren in der Wildnis ist mir nie jemand begegnet, der auch nur annähernd wie ich wa r – so wie ich jetzt bin. Ich weiß mit absoluter Klarheit, die ich nicht begründen kann: Das Wesen ist ein Verbannter, so wie ich.
    Als könnte die Kreatur meine Gedanken lesen, murmelt sie: „Nur du verstehst, was ich fühle. Wie entsetzlic h … einsam ich gewesen bin. Es war wie eine endlose Leere, eine Ewigkeit ohne Erbarme n …“ In der rauen Stimme liegt eine tiefe Sehnsucht. „Hilf mir!“, fleht das Wesen mich an.
    Was immer es sein mag, es ist schwächer als ich. Es ist krank, instabil, und es gibt ein fahles, trübes Licht ab, dessen Intensität pausenlos wechselt.
    Als ich Lelas Hand hebe, um ihre zarte irische Haut zu untersuchen, zeigt sich darauf kein Antwortschimmer. An der Oberfläche sehe ich aus wie ein Mensch, könnte menschlich sein, nur wissen wir beide, die Kreatur und ich, dass ich es nicht bin.
    „Ich kann dir nicht helfen, ich weiß nicht wie“, antworte ich leise. „Es tut mir leid.“
    „Ich habe dich gespürt“, murmelt das Wesen, als hätte ich nichts gesagt. „Unter den Bäumen. Ich habe gespürt, wie du vorübergegangen bist, aber ich konnte dich nicht sehen. Was ist dein Geheimnis? Wie kommt es, dass du so bleibe n …“ Junes verbrannte Hand deutet fragend auf Lelas schmale Gestalt. „Was war deine ursprüngliche Aufgabe?“
    Aufgabe?
    Als die Kreatur mein verwirrtes Gesicht sieht, fügt sie beschwörend hinzu: „Wofür wurdest du geschaffen? Zu welchem Zweck hat man dich hierhergeschickt?“
    Gute Fragen, auf die ich keine Antwort habe. „Ich weiß es nicht“, erwidere ich wahrheitsgemäß. „Ich erwache einfach immer wieder in einem anderen Körper. Ohne Sinn und Zweck. Das hier bin ich nur heute. Keine Ahnung, was morgen is t …“ Ich zucke die Schultern.
    Die Stimme der Kreatur klingt fast neidisch. „Wäre mein Schicksal doch auch so gnädig.“
    Gnädig? Ich kann mir keinen Reim auf diese Worte machen. Lela runzelt die Stirn.
    „Ich hätte tun sollen, wozu ich geschaffen war“, offenbart die Kreatur leise. „Meine einzige Pflicht erfüllen, und dann erlöschen, wie es mir vor vielen Jahrhunderten bestimmt war. Aber ich wollte nicht, weil ich begriffen hatte, dass es einem Selbstmord gleichkäme, diese Aufgabe zu erfüllen. Und ist Selbstmord nicht auch eine Sünde vor Gott?“
    Kommt drauf an, wen du fragst, würde ich gern sagen. Das ist eine Frage der Auslegung . Aber ich halte den Mund. Wozu eine theologische Debatte vom Zaun brechen? Das würde die Kreatur nur noch

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