Mercy, Band 2: Erweckt
zurückkommt, eine Kiste Tomaten auf der Hüfte, mehrere Plastiktüten mit Lebensmitteln in seinen Wurstfingern, haben Sulaiman und ich gerade alle Hände voll zu tun, um den Mittagsansturm zu bewältigen.
„Wo ist Cecilia?“, schreit M r Dimowski mir mit seinem russischen Akzent ins Ohr, als er die frustrierten Gesichter der Gäste sieht. „Und Reggie?“
Ich nehme weiter Sandwich-Bestellungen entgege n – getoastet, nicht getoastet, mit oder ohne Kruste, dreieckig oder rechteckig geschnitten, mit Tomaten, ohne Salat, auf Roggenbrot, auf Weißbrot mit Butter, auf Vollkornbrot mit extraviel Majo, kein Käse. Zwischendurch erkläre ich dem beleibten Russen, was sich am Vormittag in seinem Café abgespielt hat.
„Aber das ist ja unglaublich!“, stößt er hervor und übernimmt die Essensausgabe. Mit geübten Bewegungen wickelt er die bestellten Sandwiches ein, so schnell, dass ich mit dem Belegen kaum nachkomme. „Ich werde Sulaiman fragen. Sulaiman ist ein ehrlicher Mensch, der sagt immer die Wahrheit.“
Als der Andrang einen Augenblick nachlässt, fängt er Sulaiman ab, der gerade ein neues Blech mit aufgewärmter Lasagne aus der Küche hereinträgt.
„Stimmt es, was sie sagt?“, fragt M r Dimowski und schaut zu dem riesigen Koch auf. „Dass der Kerl eine Waffe hatte? Dass geschossen wurde?“
„Ja, das stimmt“, erwidert Sulaiman ernst und zeigt an die Decke, wo noch ein Stück Verputz herunterhängt. „Da ist die Einschussstelle.“
Dimitri Dimowski ist kein Mensch, der sich einfach auf das Wort anderer Leute verlässt, sonst hätte er nie sein Glück in diesem fremden Land gemacht. Während ich die restlichen Mittagsgäste allein bediene und scheinbar den schlechtesten Kaffee seit Menschengedenken ausgeb e – zu kalt, zu heiß, nicht genug Schaum, zu viel Schaum und nicht genug Wasse r –, holt der Russe eine Klappleiter, steigt hinauf und pult mit einem Steakmesser in der Decke herum. Als er herunterkommt, hält er das Messer in der rechten Hand und die Patrone in der linken. Sie ist zerdellt vom Aufprall an der Decke. M r Dimowski sieht erschüttert aus.
„Wir machen heute früher zu“, sagt er und tätschelt Sulaiman abwesend den Rücken, als der mit dem nächsten Blech voll heißem, frittiertem Essen an uns vorbeikommt, das in der Heißtheke nicht lange knusprig bleibt, sondern bald aufgeweicht und unappetitlich aussehen wird. „Das habt ihr euch verdient, ihr beiden, weil ihr so brav und fleißig seid.“
Um 14.3 0 Uhr, als außer uns niemand mehr im Café ist, schließt M r Dimowski die Vordertür ab und drückt mir den Wischmopp in die Hand. Er selbst reinigt die Tische und Arbeitsflächen und stellt die Stühle hoch. Sulaiman lässt sich nicht aus der Ruhe bringen; er putzt die Küche in seinem eigenen würdevollen Tempo, während aus dem Radio, das er auf eine Arbeitsfläche gestellt hat, leise arabische Musik rieselt.
Kurz nach drei schiebt jemand den Plastikvorhang zur Seite und klopft an die Glastür. M r Dimowski starrt misstrauisch auf die Gestalt mit der gelockten Haarwolke um den Kopf und murrt etwas, was sich in meinen Ohren wie „ Likha beda nachalo !“ anhört.
Als die Person weiterklopft und nach drinnen zeigt, ruft er: „Wir haben geschlossen! Geschlossen! Verrückte Aussies, könnt ihr das Schild nicht lesen, oder was?“
Ich gehe mit meinem Mopp näher heran und erkenne Justine Henessy.
„Ist schon gut, M r Dimowski“, sage ich, als er versucht Justine mit seinen plumpen Händen wegzuscheuchen. Der Goldring an seinem kleinen Finger blitzt im Sonnenlicht. „Ich kenne sie, sie holt sich hier immer ihren Kaffee. Ich glaube, sie will mir was sagen.“
M r Dimowski wirft die Hände in die Luft und ruft: „Macht doch, was ihr wollt!“, dann verschwindet er mit seinem Schwamm und seiner Putzmittel-Sprühflasche.
Ich lasse Justine herein und mache die Tür hinter ihr zu.
„Ihr schließt heute aber früh“, sagt sie verwundert und späht über meine Schulter zu der verlassenen Kaffeemaschine. „Ich wollte mir einen Kaffee hole n – ich brauche dringend einen zum Wachwerden.“
„Der hätte dir sowieso nicht geschmeckt“, entgegne ich lachend. „Weil ich ihn gemacht hätte. Sei froh, dass die Maschine schon abgestellt ist.“
„Ist Cecilia nicht da?“ Justine blickt sich überrascht um.
Ich schüttle den Kopf. „Und Reggie auch nicht.“
Ich erzähle ihr von dem Drama heute Morgen, und auf ihrem Gesicht zeichnet sich Entsetzen ab. „Oh, das tut
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