Mercy, Band 2: Erweckt
Nähe der Tür, der verstohlen zu mir herschaut, dann die Schultern fallen lässt und wieder auf seinen Bildschirm starrt. Und ein asiatischer Junge, der wie fünfzehn aussieht, aber wahrscheinlich schon über zwanzig ist.
Ich gehe zu dem Jungen hinüber, der in ein blutiges Kriegsspiel vertieft ist: Flammenwerfer, Hightech-Waffen und zerfetzte Menschen, die in Großaufnahme qualvoll sterben. Er blickt nicht auf, als ich mich an ihm vorbeidränge und an einen Rechner setze.
Ich werfe meinen Chip ein, führe den Cursor in den kleinen Balken am oberen Seitenrand und tippe sorgfältig die Buchstabenfolge für die Seite ein, die Ranald in seinen Laptop eingegeben hat. Ein paar Sekunden später fragt der Computer nach meiner E-Mail-Adresse und einem Passwort, und ich gebe die E-Mail-Adresse ein, die ich heute Morgen gesehen habe, und das Wort Misericordia , das mir ein leises Lächeln entlockt.
Dann bleibt mir fast die Luft weg, als ich mit einer Flut von Werbung überschüttet werde: Anzeigen für Schlankheitsmittel, Antifalten-Cremes und Hörbücher zum Ausprobieren, bei Nichtgefallen zurück. Dinge, von denen ich bisher gar nicht wusste, dass ich sie brauche, „maßgeschneidert“ für mich. Es dauert eine Weile, bis ich das alles verdaut habe, aber dann sehe ich mir die Seite genauer an und stelle fest, dass ein Freund von mir online ist, der dringend mit mir chatten will.
Ich studiere das kleine Fenster, das unten an meinem Bildschirm aufgegangen ist, die Mini-Version des Fotos, das ich bereits gesehen habe. In schwarzen Buchstaben steht da:
Verdammt, Mercy, bist du das wirklich? Antworte mir!
Fast unbeteiligt registriere ich, dass Lelas Hände leicht zittern. Bei Ryan ist es jetzt nach Mitternacht. Ich kann nicht fassen, dass wir wieder zusammen sin d – irgendwie jedenfalls.
Ich tippe zurück:
Ja. Du kannst einen Beweis von mir verlangen, wenn du mir nicht glaubst.
Wie heißt mein Vater? Meine Mutter?, schreibt er sofort zurück.
Ich antworte grinsend : Zu leicht. Stewart, Louise. Fällt dir nichts Besseres ein? Hätte ich im Telefonbuch nachschlagen können .
Er tippt: Wie heißt das Stück, das Carmens Chor für das Schüleraustausch-Konzert einstudiert hat?
Ich antworte ohne Zögern:
Gustav Mahler, 8 . Sinfonie in Es-Dur, 1 . Teil. Aber diese Information hätte ich mir auch leicht beschaffen können. Vergiss es, Ryan. Das beweist nicht, dass wir die sind, als die wir uns ausgeben. Du kannst mich nicht sehen und ich dich auch nicht. Woher weiß ich, dass du nicht Brenda Sorensen bist, die hier herumschnüffelt? Du musst mich etwas fragen, was nur du und ich wissen können.
Ryan bleibt so lange stumm, dass ich nervös werde. Habe ich vielleicht ins Schwarze getroffen und es ist wirklich Brenda, die in Ryans Computer herumschnüffelt? Oder habe ich ihn mit meiner direkten Art gekränkt?
Komisch, wie er immer diese Seite an mir hervorlockt, sodass wir sofort wieder in unseren alten, ruppigen Umgangston verfallen. Ist wohl eine Art Schutzmechanismus, nehme ich an. Niemand will verletzt werden, schon gar nicht jemand wie ich, der beinahe sein gesamtes Leben im Verborgenen verbringen musste. Weil ihm nichts anderes übrig bleibt, weil er sich nicht verraten darf. Kein Wunder, dass ich so misstrauisch bin. Die Sekunden verstreichen, und ich bin mir fast sicher, dass ich einem Betrüger auf den Leim gegangen bin.
Doch dan n – endlich ! – tauchen Worte auf meinem Bildschirm auf, stockende, überstürzte Worte, die ich zweimal lesen muss, bis ich sie verstehe.
Ryan schreibt:
Ich weiß, das klingt jetz t … total verrückt , abe r … Aber kannst d u … dir vorstellen, dass man sich in jemanden verlieb t … den ma n … den man nie wirklich gesehen hat?
Luc hatte Recht. Ryan wird am Ende vielleicht meine Rettung sein. Eine wilde Freude durchzuckt mich, so heftig, dass ich mit Lelas feingliedrigen Händen fast die Tischkante zerquetsche. Unter meiner rechten Hand haben sich schon Risse im Furnier gebildet.
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf den älteren Mann vorne im Glaskasten, aber er scheint nichts gemerkt zu haben, er liest seine chinesische Zeitung, ohne aufzublicken. Und Babyface neben mi r – da müsste schon die Decke einstürzen, um ihn aus seinem Kriegsspiel herauszureißen.
Plötzlich ist mir so schwindlig, dass ich nicht sofort schreiben kann, sondern warten muss, bis meine Augen wieder klar sind, bis Lelas rasendes Herzklopfen ein wenig nachlässt.
Er schreibt: Mercy? Bist du
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