Mercy, Band 2: Erweckt
Zündung und schließlich, wie die Patrone aus der Kammer zischt. Oder bilde ich mir das nur ein? Und springe ich wirklich vom Stuhl auf, als die Kugel in den Lauf eindringt, stoße Franklins Pistolenhand nach oben und greife gleichzeitig mit meiner anderen Hand nach seinem Gesicht?
Mein Ärger hat sich seltsamerweise in Luft aufgelöst, stattdessen breiten sich Traurigkeit und tiefe Erschöpfung in mir aus. In dieser Welt herrscht so viel Verzweiflung, die sich irgendwo am Rand der Gesellschaft entlädt, ohne die Ordnung groß zu stören. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob ich in einem fremden Körper sterben könnt e – oder würde ich einfach in einem neuen Körper erwachen, wenn alles vorbei ist?
Ich werde es wohl bald herausfinden.
In dem Augenblick, in dem mein rechter Handballen auf Franklins Stirn trifft, sehe ic h …
… alles, was in grellen Farben in seinem Kopf abläuft. Das Gesicht seiner Frau, die immer nur fordert und nie genug bekommt, ihre kalte, sorgfältig konservierte Schönheit; die Erinnerung an die Geburt seiner beiden Söhne, die schon fast zwanzig sind und nicht nur äußerlich ihrer braunhaarigen Mutter gleichen, sondern genauso fordernd sind wie sie: ihr ständiges Haben, Haben, Haben; der erste Hund, den Franklin je bekommen hat; das Begräbnis des ersten Menschen, dessen Tod er erlebte; eine Marketing-Präsentation, bei der die Lautsprecheranlage versagte, sodass er vor einem vollen Saal stand, ohne ein Wort herauszubringen; seine erste Beförderung; ein Streit mit seinem Vater, der mit Prügel endete, ein Riss, der nie verheilte. Der Moment, in dem er gefeuert wurde und innerhalb einer Stunde seinen Schreibtisch räumen musste. Auch die Angst vor einem Schlaganfall oder Infarkt blitzt auf: eine Flut von Alltagsszenen, ein ganzes Leben auf Sekunden reduziert, auf flüchtige Schnappschüsse, eine Sound- und Lightshow, die vom Adrenalin in Gang gesetzt wurde, von Franklins Gewissheit, dass er bald aus dem Leben scheiden wird und alles vergeblich war.
Gleichzeitig spüre ich die Not des Malakh, den Schmerz und die Wut, die ihn dazu treiben, Franklin zu benutzen, ihn zu seiner Waffe zu machen. Erbittert ringt er mit mir um die Pistole.
Ich will sterben! , kreischt es in meinem Kopf. Warum lasst ihr mich nicht sterben?
Der Malakh mag schwach sein, aber er steigert Franklins Kräfte um ein Tausendfaches, und ich kann den Mann kaum halten, während ich ihm in die Augen blicke und auf die Kreatur hinter seiner Stirn einrede. Du bist auf dem falschen Weg , sage ich. Eine Kugel aus einer irdischen Waffe kann uns nicht töten. Der Körper geht vielleicht unter, aber der Geist wird weiterleben, verletzt, entstellt, gezeichnet von dem, was er gesehen und getan hat. Wi r – unsere Ar t – können uns nur gegenseitig den Tod bringen. Leg die Waffe weg, weiche von ihm. Das ist nicht der richtige Weg.
Eine Ewigkeit, scheint mir, verharren wir in diesem tödlichen Tauziehen zu dritt.
In Wahrheit geschieht alles im Handumdrehen, der Zeit, die Franklins Finger braucht, um auf den Abzug zu drücken, die Zeit, die ich brauche, um seinen Arm wegzuschlagen, sodass die Kugel in die Decke einschlägt, ohne einen Schaden anzurichten. Als Franklin erneut abdrücken will, von dem Malakh getrieben, der hinter seinen Augen heult und tobt, fauche ich ihm ins Gesicht: „ Mors ultima linea rerum est , Franklin. Der Tod ist das Ende aller Dinge. Wenn du abdrückst, gibt es kein Zurück. Dann bist du nicht nur selbst verloren, in alle Ewigkeit verdammt. Denk an deine Kinder, an deine Frau, vor der du nicht als Versager dastehen willst. Wenn du deinem Leben ein Ende setzt, zerstörst du auch ihres. Dann ist mit einem Schlag alles anders. Willst du dir die Zukunft rauben, du Idiot?“
Die Pistole, die wir uns noch immer gegenseitig aus der Hand zu reißen versuchen, ist heiß und stinkt nach Schießpulver und Tod. Ich spüre den Malakh, der wie ein Feuersturm in Franklin tobt und sich erbittert in dessen lebendiges Fleisch krallt. Keiner der beiden hört mir wirklich zu, denn sie sind zu verletzt und zu leer, um ihre schäbige Umgebung wahrzunehmen: die fünf Menschen im Raum, die Franklin an einem sonnigen Sommermorgen wahllos als Geiseln genommen hat.
Plötzlich, ohne zu wissen, warum, rufe ich dem Malakh hinter Franklins Stirn zu: Exorcisote!
Ein blendendes Licht zuckt auf, greller als brennendes Magnesium, greller als ein Blitz, der in die Erde einschlägt. So kurz, dass die anderen im Green Lantern
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