Mercy, Band 2: Erweckt
mir aber leid“, sagt sie, und ihre Reaktion verrät mir, dass Gewalt für sie kein Fremdwort ist. „Hoffentlich ist niemand verletzt.“
„Nein, nei n – jedenfalls nichts Sichtbares“, sage ich. „Aber dafür sind wir jetzt unterbesetzt. Wolltest du sonst noch was?“
Justine rückt den Riemen ihrer schwarzen Schultertasche zurecht. „Nein, höchstens ’nen Sechser im Lotto.“ Sie lacht über ihren kleinen Scherz.
Heute trägt sie ein kariertes Leinen-Shirt über demselben weiten weißen Frotteekleid. Ihre braunen Augen mit dem lila Eyeliner und dem grün-pinkfarbenen Lidschatten blitzen, aber auf der Wange sitzt ein neuer blauer Fleck, direkt unter ihrem rechten Auge. Die Schminke kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Fleck an den Rändern bereits grün wird.
„Ich bring dich raus“, sage ich stirnrunzelnd und wedle den Mopp in M r Dimowskis Richtung, um ihm zu signalisieren, dass ich einen Augenblick draußen bin. Wieder wirft er resigniert die Hände hoch, dann putzt er weiter.
„Du musst dafür sorgen, dass das aufhört“, sage ich. „Sonst bringt es dich irgendwann um.“
„Was? Das Kaffeetrinken?“, sagt Justine grinsend, obwohl sie natürlich genau weiß, was ich meine. „Irgendwann bringt dich alles um.“
Als ich nicht lache, sagt sie leise: „Ist schon gut, Lela, ich hab’s im Griff. Ich kann auf mich aufpassen.“ Dann spaziert sie winkend davon. Wie soll man jemandem helfen, der seine Fassade so gut wahren kann? Justine ist ein Profi in dieser Hinsicht.
Langsam, bekümmert gehe ich wieder rein. Sulaiman hängt seine weiße Kochmütze und seine schwarze Schürze in den engen Einbauschrank hinter der Serviertheke. Mein Mopp ist verschwunden, genauso wie M r Dimowski.
„Ich hab fertig geputzt“, sagt Sulaiman. Er schultert seinen Nylonrucksack und fügt hinzu: „M r Dimowski bringt den Mül raus. Er sagt, du kannst gehen, wenn du willst.“
Sulaiman hält mir die Schranktür auf, ich nehme Lelas Rucksack an mich und krame ihren roten Kunstleder-Geldbeutel hervor, der ein paar Scheine und Kleingeld enthält. Ich rechne kurz nach: Es reicht für einen Besuch in dem InternetCafé, das Justine mir beschrieben hat. Ich werde einen Abstecher dorthin machen, bevor ich zu Lelas Mutter zurückgehe.
Ich bin vielleicht wieder zu voreili g – wer sagt mir denn, dass überhaupt schon was da ist? Aber das Kribbeln in meinem Bauch ist mehr als Nervosität. Vielleicht Hoffnung. Irgendwie kommt es mir vor, als tappte ich nicht mehr nur im Nebel herum. Aber ich muss aufpassen, dass ich nicht vom Plan abweiche.
Vor dem Café bleibt Sulaiman stehen.
„Geh heim zu deiner kranken Mutter“, ermahnt er mich streng. „Wenn es dunkel wird, musst du hier weg sein. Lass dich nicht in die Männerwelt reinziehen. Ich sage dir das al s … als dein Freund.“
Ich halte dagegen: „Na und du? Wo bist du, wenn es dunkel wird?“
„Beim Abendgebet, wo sonst? Ich habe allen Grund, Gott zu danken. Zum Beispiel dafür, dass ich noch lebe“, fügt er vielsagend hinzu. „Und dass ich mit meinem Platz in der Welt zufrieden bin.“
Ich spare mir die Antwort, winke kurz und gehe davon in Richtung Chinatown, zum China-Imbiss mit der grinsenden Nudelschale auf dem Fenste r – einer Nudelschale, die mit Armen und Beinen wedel t – und auf das hell erleuchtete Theater und den grellbunten Torbogen zu.
Kapitel 11
Bevor ich links nach Chinatown abbiege, blicke ich kurz über die Schulter, aber Sulaiman ist schon weg. Er irrt sich, wenn er glaubt, dass ich mich vor meinen Pflichten drücke. In Wahrheit will ich so schnell wie möglich zu Lelas Mutter zurück, denn ihre Stunden sind gezähl t – so heißt es doch? Und ich will nicht, dass sie alleine stirbt.
Dass sie Azrael allein gegenübertreten muss.
Wie komme ich plötzlich auf diesen Namen? Ich kann mir kein Gesicht, keine Gestalt dazu vorstellen. Ich grüble auf dem Weg zum Internet-Café darüber nach, dann schiebe ich die Gedanken beiseit e – ist wohl nur eine weitere Gedächtnislück e – und betrete den engen, klimatisierten Laden, der mit Computern und Kabeln vollgestopft ist.
Ich studiere die grelle Beschilderung an den Wänden und reiche dem Mann hinter der kugelsicheren Scheibe einen Fünfer. Er gibt mir einen Chip dafür und deutet mit dem Kinn auf den Raum voller Computer. „Ich sag Ihnen Bescheid, wenn Ihre Zeit um ist“, sagt er.
Außer mir sind nur zwei andere Leute da. Ein nach saurem Schweiß riechender Mann in der
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