Mercy, Band 4: Befreit
sie rauscht durch die leeren Fenster auf mich herab, als wollte sie mich töten.
„Ryan!“, schreie ich, halb wahnsinnig vor Angst, dass sein Menschenkörper dem Druck nicht standhält und zerquetscht wird.
Das Licht, die Hitze, das Kreischen, alles steigert sich ins Unermessliche. Dann ertönt ein gewaltiges Krachen, sodass ich im ersten Moment glaube, der Duomo, ja, ganz Mailand werde dem Erdboden gleichgemacht.
Ein blendendes Licht zuckt auf, umhüllt mich, dann wird es wieder dunkel. Der Druck lässt nach. Die Luft wird kühl und dünn und ich weiß, dass Luc fort ist, jedenfalls fürs Erste. Seine Dämonen hat er mitgenommen.
Ich springe auf und schreie: „Ryan!“
Ich bin das einzig Sichtbare an diesem Ort, ansonsten herrscht vollkommene Finsternis. Die kalte Luft, die durch die Fensterhöhlen hereinströmt, prickelt wie Nadelstiche auf meiner Haut. Draußen ist es still. Kein Schnee, kein Regen, kein Wind. Der Sturm, der sich die Nacht über ausgetobt hat, ist weitergezogen. Mit Luc verschwunden.
Ich spüre Ryan, ehe ich ihn sehe: seine vertraute Energie, das Summen, das immer deutlicher wahrnehmbar wird. Endlich poltern seine Stiefel die Steintreppe herunter, das pulverisierte Glas knirscht unter seinen Sohlen, dann biegt er um die Ecke. Keuchend lässt er sich neben mir auf den Treppenabsatz fallen.
„Ich bin weiter raufgegangen“, stößt er hervor, „weil ich dachte, dass ich dort oben einen besseren Überblick habe. Aber die Fenster sind viel zu weit oben.“ Er packt mich am Arm, noch ganz außer Atem. „Ich bin hochgesprungen, damit ich was sehe, und genau in diesem Moment hat mich was von hinten gepackt. Ich war wie gelähmt, ehrlich. Ich hab keine Luft gekriegt und ich konnte keinen Finger rühren. Und auf einmal hab ich so komische Lichtströme gesehen, die in das Loch im Dach der Galleria eingesaugt wurden.“ Seine Gedanken überschlagen sich. „Das waren … Dämonen, stimmt’s?“ Er schluckt, will die physische Existenz dieser Kreaturen immer noch nicht wahrhaben. „Wie kann so was Schönes … so abgrundtief böse sein?“
Wieder blitzt ein Bild von Luc vor mir auf und überlagert Ryans Züge. Schaudernd flüstere ich ihm zu: „Frag nicht – du hast es doch selber gesehen …“
Mit wackligen Knien steige ich die Treppen zum Fenster hinauf, um mir selbst ein Bild zu machen. Auch für mich ist es zu hoch. Du schaffst das, du kannst alles . Leichtfüßig springe ich in die Luft … und schwebe.
Wollen und Handeln sind eins. Das ist der Trick.
Trotzdem ist mir schwindlig. Panik und Übelkeit steigen in mir auf. Schweben ist für mich fast wie Fliegen, und ich frage mich, ob ich jemals wieder leicht und mühelos von der Erde aufsteigen werde.
Es dauert eine Weile, bis ich meinen Blick nach unten richten kann. Und jetzt sehe ich den schwarzen Rauch, der aus dem zerstörten Dach der Galleria Vittorio Emanuele hervorquillt. Entsetzt starre ich auf die flackernden blauen Lichter der Krankenwagen, die kreuz und quer hinter den hastig errichteten Absperrungen auf der Piazza parken. Überall wimmelt es von winzigen Gestalten, die langsam wieder auf die Füße kommen und ängstlich und verwundert zugleich zum Himmel zeigen.
Am Horizont erscheint bereits ein schwacher Lichtschimmer. Der Tag bricht endlich an.
Ich habe genug gesehen und lande wieder auf dem Boden, gerate nur kurz ins Stolpern, als meine Füße den Stein berühren. Ryan sieht mich schweigend, fast vorwurfsvoll an, weil ich ihm wieder einmal bewiesen habe, welcher Abgrund uns trennt.
„Wir müssen weg hier, Ryan“, sage ich. „Solange ich hier bin, werden sie immer wieder angreifen. Und die Stadt und ihre Bewohner haben schon genug gelitten. Die Dämonen sind jetzt fort. Michael, Gabriel und die anderen müssen sie irgendwie weggelockt haben, damit wir unbemerkt verschwinden können. Also, wenn du’s ernst meinst, wenn du wirklich mitkommen willst, dann müssen wir aufbrechen. Jetzt gleich. Es wird bald hell.“
„Aber wie?“, fragt Ryan. „Wir können doch nicht einfach rausgehen, dann sehen sie uns doch. Wir sind nirgends mehr sicher, wenn sie uns vernichten können, ohne uns auch nur anzufassen …“
Ryan schaudert, und ich nehme sein Gesicht in meine Hände, lasse meine Körperwärme in ihn hineinströmen und hoffe, dass er diese Wärme für Zuversicht hält.
„Doch, wir können weg“, wispere ich. „Wir haben etwas, was uns einen kleinen Vorteil verschafft. Im Gegensatz zu ihnen sind wir
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