Mercy, Band 4: Befreit
schleudert.
Ich knalle der Länge nach auf den Boden und kann gerade noch den Kopf heben, bevor die Erzengelin Nuriel aus einem Gewölbe hervortritt, das sich wie durch Magie auf der Treppe über uns geöffnet hat.
Wie schön sie ist!
Ihre langen dunklen Locken kringeln sich um die Schultern, als wären sie lebendig. Ihre dunklen Augen sind weit aufgerissen und blind, ihre Gestalt scheint wie aus Blitzen gemacht. Ihre Umrisse strahlen so hell, dass ich sie in dem schimmernden ärmellosen Gewand kaum erkenne. Nuriel ist waffenlos und ihr Gesicht sieht beinahe … erloschen aus. Alle Freude, alles Strahlende, das ich mit ihr in Verbindung bringe, ist daraus verschwunden.
Ryan hat sich ihr zugewandt, von ehrfürchtigem Staunen erfüllt, genau wie ich.
„Soror“ , fleht Nuriel. „Salva me.“
Schwester, rette mich!
Ich gehe auf die Knie, will nach ihr greifen, aber sie sieht mich nicht an, sondern schwebt weiter schwerelos über dem Stein. Und da begreife ich, dass ich einer Vision aufgesessen bin. Nuriel ist nur eine Projektion und nicht wirklich hier. Durch Luc weiß ich, dass so etwas möglich ist.
Vorsichtig richte ich mich auf, nähere mich der Vision und lasse meine Hand durch die Ränder von Nuriels flimmernder Silhouette gleiten, die sich ständig verändert. Ich spüre nichts. Sie könnte ein Hologramm sein.
„Festina“ , wispert die Vision, „ne delear ut K’el deletus est.“ Komm schnell. Oder man wird mich vernichten, so wie K’el vernichtet wurde.
„Was sagt sie?“, fragt Ryan und steht vorsichtig auf.
Aber mich durchzuckt eine Erinnerung und ich antworte nicht.
„Salva me, soror“ , wiederholt Nuriel mit unirdischer, emotionsloser Stimme. „Salva me.“
Dann flirren und verschwimmen Nuriels Umrisse. Schließlich erlischt sie, und Ryan und ich bleiben allein zurück, blicken uns vorsichtig um.
„Du hast sie gehört“, sage ich, „und gesehen.“
Ryan nickt benommen. „Aber ich hab kein Wort verstanden. Sie hätte genauso gut rückwärtsreden können.“
„Das war Latein. Und sie will, dass ich sie rette.“
Ryans Gesicht leuchtet auf. „Dann bleibst du also da und befreist sie?“
„Das ist eine Falle, Ryan“, erwidere ich tonlos, und alle Hoffnung schwindet aus seinem Gesicht. „Als ich Nuriel das letzte Mal gesehen habe, hat Luc sie verfolgt, über dem Comer See, und er hat sie gefangen, das hab ich ihn selber sagen hören. Die Vision ist ein raffinierter Köder. Da ist Erpressung im Spiel. Und Folter.“
„Aber wenn sie doch deine Freundin ist?“ Ryans Stimme klingt jetzt beinahe bettelnd. „Und wenn sie in Not ist?“
„Ja“, erwidere ich knapp, weil ich weiß, worauf er hinauswill.
Ryan blickt mich herausfordernd an. „Dann bleib. Wenn du’s schon nicht für mich tust, dann für sie. Zeig’s ihm endlich, diesem Luc. Kämpfe mit ihm. Das willst du doch! Oder lass uns wenigstens jemanden da, der uns verteidigt, wenn du die Fliege machst.“
„Eine Falle ist es trotzdem“, sage ich gekränkt. „Und du hast nichts begriffen, wenn du glaubst, dass wir für euch die Feuerwehr spielen. Außerdem glaubst du ja wohl nicht, dass Luc einfach zusehen wird, wie ich Nuriel befreie? Selbst wenn ich mich erweichen lasse und ihr helfe – du kommst auf keinen Fall mit. Du brauchst also gar nicht davon anzufangen. Das ist nicht verhandelbar.“
„Heißt das, du bleibst hier?“, fragt Ryan hoffnungsvoll.
„Das hab ich nicht gesagt“, knurre ich. „Ich denke noch darüber nach. Es könnte dein Tod sein.“
Was natürlich unlogisch ist, aber meine ganze Angst um ihn verrät.
„Sag, was du willst“, trumpft Ryan auf. „Ich folge dir trotzdem. Du kannst mich nicht aufhalten. Ich hab schließlich genug Übung darin, dich aufzuspüren. Sorry, aber du hast dir den falschen Typ für deine Spielchen gesucht.“
„Du hast keine Ahnung, wozu ich fähig bin!“ Meine Stimme überschlägt sich vor Sorge um Ryan. „Und wie willst du mir folgen, wenn du gar nicht weißt, wo du hinmusst? Vergiss es, Ryan, du würdest mich nie finden.“
„Wieso nicht? Ich muss ja nur der Spur der Verwüstung folgen, die ihr überall hinterlasst“, kontert Ryan. „Bis jetzt habt ihr doch nur Chaos angerichtet. Es ist keine Kunst, dich zu finden, Mercy. Die abgefackelten Häuser zeigen mir den Weg.“
Oder die brennenden Menschen. Schaudernd denke ich an die Bilder des Flammeninfernos, die Gia Basso und ich im Fernsehen gesehen haben.
„Luc würde dich zerquetschen“, knurre
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