Mercy, Band 4: Befreit
das ist. Es gibt dort eine Villa, ein großes Anwesen mit einem kleineren Nebengebäude und einem privaten Anlegesteg. Ich hab alles noch deutlich vor Augen. Und von dort aus finden wir unseren Weg, okay?“
Der Plan klingt besser, als er ist, weil er praktisch nur aus Lücken besteht, aber das kann Ryan zum Glück nicht wissen. Welche Stadt? Welche Villa? Und wie soll ich den Ort je finden, wenn ich nur ein paar Bilder und Visionen aus einem nächtlichen Traum im Kopf habe?
Wieder überrollt mich der Schwindel wie eine große Woge, und mir ist so schlecht, dass ich fast ohnmächtig werde. Noch nie hat mir eine Aufgabe solche Angst gemacht, und in meiner Panik verfehle ich eine Stufe.
Ryan reagiert blitzschnell, obwohl er nichts sieht, und fängt mich auf, bevor ich fallen kann.
Dann dreht er sich ungeschickt zu mir um. „Vergiss, was ich vorhin gesagt habe“, murmelt er und tastet mein Gesicht ab. „Meinetwegen kannst du leuchten, so viel du willst, und es ist mir egal, wie du aussiehst. Für mich bist du die Schönste und ich erkenne dich überall.“
Im Dunkeln kann Ryan nicht sehen, wie ich sein Gesicht erforsche. Und zum Glück bleibt ihm die Angst verborgen, die ich um ihn habe. Ohne Vorwarnung strecke ich die Hand aus, ziehe seinen Kopf zu mir herunter und küsse ihn sanft auf die Lippen.
Ich ignoriere das Feuer, das in mir aufzüngelt wie etwas Lebendiges. Verboten! , scheint es mir zuzuflüstern.
Dabei war es doch nur ein flüchtiger Kuss.
Meine Gefühle für Ryan sind so anders als meine Liebe zu Luc damals. Verlust, Kummer, Reue – all das ist in jedem Wort enthalten, das wir sagen, in jedem Blick, den wir wechseln. Es verfolgt uns Tag und Nacht, wie ungebetene Geister auf einem Fest. Doch die komplizierte, hart erkämpfte Liebe, die zwischen uns entstanden ist, wird dadurch nur stärker und inniger. Weil man erst zu schätzen lernt, was einem genommen wird, wie die Sterblichen sagen. Aber das stimmt nicht, denn ich weiß jetzt schon, was ich an Ryan habe. Unsere Liebe ist kostbar und einzigartig, wenn auch zutiefst erschreckend.
Ryan meint es ernst, wenn er sagt, dass er nicht aufgeben wird, bis er mich aus meinem Panzer herausgelockt hat.
Seine bedingungslose Liebe beschämt mich, und ich bin geradezu froh, dass er mich nicht sehen kann.
„Vielleicht liegt darin der Schlüssel zu unserem Glück“, sage ich und lache verlegen, um meine Angst zu überspielen. „Nichts überstürzen, immer schön Schritt für Schritt …“
„Okay“, erwidert Ryan unsicher, „ich hab nichts gegen kleine Schritte, solange sie in die richtige Richtung führen …“
„Du verdienst was Besseres“, murmle ich. „Mehr als ich dir je geben kann.“
Dass ich ihn liebe, diesen Satz bringe ich nicht über die Lippen, weil ich Angst habe, dass alles kaputtgeht, so wie bei Luc damals. Ich bin verflucht, werde es vielleicht immer sein.
„Du übertriffst meine wildesten Träume“, entgegnet Ryan. „Das weißt du doch.“ Er packt mich fester, zieht mich enger an sich, weil er mehr will, nach Menschenart.
Im selben Moment klirrt etwas unter uns. Ganz leise nur, wie ein Kieselstein, der in einen ausgetrockneten Brunnenschacht fällt.
„Was ist?“, fragt Ryan verwirrt, als er sieht, dass etwas in mir aufflackert, etwas Urtümliches, ein tief verwurzelter Gefahreninstinkt.
Ich stürme die Treppe hinauf, zerre Ryan an seiner Lederjacke mit.
„C’è qualcuno?“ , sagt plötzlich eine Männerstimme auf Italienisch, schwach aber deutlich vernehmbar. Ist da jemand?
„Cosa c’è?“ , erwidert eine zweite Männerstimme scharf, ebenfalls auf Italienisch. Was ist?
„Geräusche – hör mal“, sagt der erste Mann.
Ryans Schritte, sein keuchender Atem, das alles ist so schrecklich laut.
„Ich höre nichts. Du fürchtest dich vor deinem eigenen Schatten“, sagt die zweite Stimme nach einer Weile.
„Aber wenn ich’s dir doch sage“, beharrt der erste Mann.
„Pietros Stimme ist laut genug, um Tote zu wecken“, bekommt er zur Antwort. „Wahrscheinlich ist er schon auf dem Weg hierher.“
Dann ertönt ein leises Klopfen. Die Geräusche kommen stetig näher, und jetzt fange ich auch das Summen auf, das von den beiden Männern ausgeht.
„Ryan“, sage ich leise und verzweifelt. „Du musst dich beeilen. Sie dürfen uns hier nicht finden. Wenn sie uns erwischen und verhören, sind wir verloren.“
„Aber wenn ich dir doch sage, dass da oben jemand ist“, fängt der erste Mann wieder an.
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