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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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fähig, wie Sterbliche in dieser sterblichen Welt zu denken und zu handeln. Etwas, wozu sich keiner von ihnen, ob Engel oder Dämonen, je ‚herabgelassen‘ hat. In ihren Augen seid ihr nur stumpfsinniges Vieh, obwohl ihr oft genug bewiesen habt, wozu ihr fähig seid.“
    Ich lege meine Stirn an seine und Ryan schließt die Augen bei dieser warmen Berührung.
    „Wenn es hell ist und die Touristen auf die Straßen hinausströmen“, murmle ich, „dann brechen wir auf. Unten auf der Piazza herrscht jetzt schon Hochbetrieb, wie immer, wenn es etwas zu gaffen gibt. Und du wirst sehen, bald kommen noch viel mehr Leute. Ganze Menschenströme werden sich die Treppe hier heraufwälzen. Von hier oben hat man den besten Blick auf die Katastrophe. Sobald es hell ist, wimmelt es hier von Reportern und Schaulustigen und dann mischen wir uns einfach unter sie.“
    Ryan weicht vor mir zurück und lacht ungläubig. „Du kapierst es nicht, Mercy, was?“ Er geht rückwärts ein paar Stufen hinauf, sodass er auf mich herunterblickt. „Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut? Du bist das schönste Wesen, das ich je gesehen habe. Aber du leuchtest. Die Chance, dass du unbemerkt davonkommst, ist ungefähr so groß wie …“
    Ryan verstummt und kippt vor Schreck fast hintenüber, als ich etwas ausprobiere, das K’el, Nuriel und auch Gudrun mir vorgemacht haben.
    Ich verändere meine Gestalt.
    Allerdings ist diese Fähigkeit bei mir etwas eingerostet, sodass ich eine Ewigkeit nachbessern muss, bis ich mit den Augen, der Nase, der Gesichtsform, der Haarfarbe, der Größe und allem anderen zufrieden bin.
    Und die ganze Zeit sehe ich Ryans Gesicht vor mir, in dem sich Faszination und Grauen spiegeln.
    Am Ende sehe ich aus wie sechzehn, höchstens siebzehn, so wie ich mich fühle – verwirrt, verletzlich und ungefestigt.
    Mein Äußeres ist eine bizarre Mischung aus all meinen früheren Leben, an die ich mich erinnere. Ezra zu Ehren gebe ich mir einen sonnengebräunten Teint, dazu Lucys grüne Augen, weil ich Tag für Tag in ihrem stickigen Apartment in den gesprungenen Spiegel geschaut und mich weit weggewünscht habe. Ich übernehme Susannas lange, schmale, sommersprossige Nase und die Grübchen in ihren Wangen, die mir ein offenes, freundliches Lächeln verleihen. Von Carmen nehme ich die wilden schwarzen Locken, Lela steuert ihre zerbrechlichen Handgelenke und Fußknöchel bei und Irina ihr herzförmiges Gesicht, ihre manikürten Fingernägel, ihre Modelgröße und ihre endlos langen Arme und Beine, weil ich die Welt aus ihrer Perspektive betrachten und meinen Kopf an Ryans Schulter legen will, ohne dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen muss.
    Aber ich habe auch etwas von meiner eigenen kraftvollen Gestalt, meinen flammenden Zügen – eine kleine ironische Anspielung, die nur ich verstehe. Irina war ein zerbrechliches Geschöpf, etwas, was ich mir nie gestatten würde.
    Ich könnte aus jedem Land der Welt kommen, bin zugleich ein Allerweltstyp und einzigartig, eine interessante Erscheinung, fast eine Schönheit. Ich bestehe praktisch nur aus Eigenheiten, aus Launen der Natur.
    „Wer zum Teufel sollst du denn jetzt sein?“, fragt Ryan und starrt mich an.
    „Mach den Mund wieder zu“, sage ich lachend. „Na, wer bin ich wohl?“
    Ich drehe mich im Kreis, stemme meine Hand in die linke Hüfte, so wie Irina es gemacht hat.
    Ich trage normale Alltagskleidung – eine schwarze Kapuzen-Daunenjacke, einen dicken schwarzen Rolli, enge dunkelgraue Jeans und beige, kniehohe Stiefel mit flachen Absätzen. Natürlich alles gefaked, alles Requisiten, aus derselben Energie geformt, aus der ich bestehe. Die Sachen sind da, wenn ich sie brauche. Weil ich sie brauche.
    Ryan studiert mich blinzelnd. „Das ist nicht witzig. So erkenn ich dich nicht wieder“, klagt er schließlich.
    Ich runzle die Stirn und schwebe langsam die Treppe hinauf auf ihn zu. „Schau genauer hin, Ryan. Du hast mich in Carmen erkannt, in Lela, in Irina. Ich bin, wie ich immer war. Das hier ist nur eine Hülle. Ich bin noch da. Du kennst mich.“
    Ich setze mich neben ihn, aber er rutscht weg, schreckt vor mir zurück, vor meinen Verwandlungskünsten.
    „Was zum Teufel könnt ihr noch alles, du und deine Elohim?“, murmelt er finster. „Ich dachte, ich hätte mich langsam damit arrangiert, dass du so bist, wie du bist, aber dann kommt gleich der nächste Schock. Ich hab dich doch gerade erst wiedergefunden, verdammt noch mal! Und dann ziehst du

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