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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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Peitschenhieb, eine offene Flamme, die Lucs Seele verbrennt. Ich höre ihn aufschreien, fassungslos und in echter Qual. Dann bricht die tastende Energie abrupt ab, sein Versuch, mich auszuspionieren, und die Atmosphäre ist nicht länger von seiner Bosheit erfüllt. Luc wird nicht so schnell wieder nach mir greifen.
    Plötzlich nehme ich den Geruch von nasser Erde wahr. Es muss geregnet haben, während wir in den Katakomben waren. Aber kein Vogelzwitschern ist zu hören, kein Reifenquietschen auf regennassen Straßen, nein, die Luft ringsum ist von Sirenengeheul erfüllt und vom Widerschein zahlloser, rotierender Blaulichter.
    Ryan zieht mich auf die Füße, und ich schmiege mich unwillkürlich an ihn, weil ich seine Wärme, seine Stärke brauche, um mich aufrecht zu halten. Zitternd fasse ich meine Umgebung ins Auge und bin sprachlos vor Entsetzen, so schrecklich ist die Verwüstung. Es sieht aus wie in Mailand. Wir stehen auf dem einzigen Straßenabschnitt, der nicht eingebrochen ist und Autos, Fahrräder, Bäume, Schilder, Ladenmarkisen und Hauseingänge verschlungen hat. Das hier ist keine Straße mehr, sondern ein tiefer Graben.
    „Mein Gott“, haucht Ryan, als er das Chaos um uns herum sieht. „Was zum Teufel ist denn hier passiert?“
    „Na was wohl? Wir waren das“, sage ich.
    Er dreht sich um und starrt mich entsetzt an.
    Der letzte Lichtschimmer am winterblauen Himmel ist verschwunden. Meine innere Uhr sagt mir, dass es nach vier sein muss, dass wir vier Stunden fort waren. In den Fenstern der beschädigten Gebäude sind keine Menschen zu sehen, aber auf der Straße wimmelt es von Rettungshelfern und Polizei, die in einiger Entfernung eine riesige Menschenmenge in Schach halten. Rufe hallen herüber, als wir entdeckt werden – zwei einsame Gestalten, die mitten auf der Straße stehen wie sensationslüsterne Touristen. Nur dass Ryan von Kopf bis Fuß mit weißem Staub bedeckt ist, so wie die beiden Jungen vorher. Wir könnten genauso gut laut hinausschreien, dass wir in den Katakomben waren, während hier oben die Welt einstürzte.
    „Arrêtez-vous!“ Bleiben Sie stehen! , brüllt ein Mann in der Ferne.
    Ich lasse ihm keine Zeit, eine Waffe auf uns zu richten oder näher zu kommen. Ich packe Ryan unter den Armen und schwinge mich mit ihm in den schützenden Himmel auf. Ryan brüllt vor Angst.
    In Sekundenschnelle steige ich auf, so hoch, dass wir bald im Bauch einer schwarzen Wolke verschwinden, die auf uns zutreibt. Und kurz darauf sind wir nur noch zwei Pünktchen, unsichtbar für Menschenaugen. Die Leute dort unten werden wohl vergeblich nach einer Erklärung für unser Verschwinden suchen, wenn sie die Ereignisse dieses Tages zu Protokoll nehmen.
    Der Wind fegt uns ins Gesicht. Ryan schreit jetzt nicht mehr, aber er hat die Augen zugekniffen und sieht aus, als ob ihm kotzübel wäre, wie auf einer wilden Achterbahn, von der er nicht herunterkommt. Als meine Flugbahn flacher und gleichmäßiger wird, windet er sich in meinem Griff, will in panischer Angst nach hinten greifen und seinen Rucksack packen.
    „Wir könnten d-doch einfach Henri anrufen“, stottert er mit zusammengebissenen Zähnen. „Der würde uns fahren.“
    Es ist eisig hier oben und ich drücke ihn fester an mich, um ihn zu wärmen. „Henri hat offiziell Dienstschluss“, erinnere ich ihn sanft. „Und glaubst du wirklich, dass er uns mitnimmt, nachdem er gesehen hat, was im vierzehnten Arrondissement passiert ist? Wenn dir schwindlig ist, musst du ja nicht runterschauen.“
    Ryan schüttelt entsetzt den Kopf.
    „Eine Straße nach der anderen vom Erdboden verschluckt, Ryan. Wenn ich Henri wäre, würde ich uns beide nicht mit der Kneifzange anfassen. Er geht garantiert nicht ans Telefon, und ich kann es ihm nicht übel nehmen. Weißt du noch, was du immer zu mir gesagt hast? Du fällst nicht, ich halte dich . Also kannst du ganz beruhigt sein.“
    Ryans Atem geht unregelmäßig, er hat die Augen immer noch geschlossen, sodass er nicht mitkriegt, wie wir das Chaos um die Île de la cité und die Île St. Louis hinter uns lassen, dann den gesamten Pariser Norden.
    Um seine Nerven zu schonen, verrate ich ihm nicht, wie schnell ich tatsächlich fliegen kann. Ohne jede Angst lege ich mich in die Windböen und atme den Geruch des näher kommenden Regens ein. Wenn Ryan bei mir ist, habe ich wirklich das Gefühl, dass ich nicht fallen kann.
    Die Lichter dort unten sind atemberaubend schön. Als hätte jemand ein Netz aus Juwelen

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