Mercy, Band 4: Befreit
über die abendliche Landschaft geworfen. Ein unerklärlicher Freudentaumel erfasst mich, obwohl ich weiß, dass wir noch nie in so großer Gefahr waren – zwei winzige Geschöpfe, die gegen einen riesigen, unheilschwangeren Himmel ankämpfen.
„Du hast ja keine Ahnung, was dir entgeht, wenn du nicht runterschaust“, sage ich zu Ryan.
Er legt seine kalte Wange an meine, die Augen immer noch geschlossen. „Erzähl’s mir, wenn alles vorbei ist“, sagt er mit klappernden Zähnen und sein ganzer Körper schlottert mit.
„Wir sind da“, verkünde ich wenige Minuten später und lande so lautlos, so leicht, dass er einen Augenblick braucht, um zu begreifen, dass er wieder auf festem Grund steht. Er wankt auf der Stelle und öffnet mühsam die Augen, bevor er den Kopf hebt. Benommen starrt er auf das Schild an der Hangarwand neben uns: StA Global Logistics. Die Angst hatte den Lärm der Maschinen übertönt, die unter uns auf der Landebahn hin- und hersausen, und den Geruch nach Kerosin und feuchtem Asphalt überlagert.
„Du gehst jetzt durch den Vordereingang des Hangars“, sage ich ihm mit leiser Stimme, „und stellst dich dem diensthabenden Bodenpersonal vor. Sag ihnen, dass die Maschine aufgetankt und so schnell wie nur menschenmöglich startklar gemacht werden soll. Wir greifen auf Biancas Angebot zurück – hol sie ans Telefon, wenn es sein muss, oder einen ihrer geheimnisvollen Telefoncracks. Du musst alle Register ziehen, hörst du?“
„Aber ich seh doch aus wie ein Terrorist“, protestiert Ryan und fährt sich mit seiner aufgeschürften Hand durch den staubigen Bürstenschnitt. „Die Polizisten eben haben uns jedenfalls dafür gehalten. Und wo willst du überhaupt so eilig hin? Was soll ich ihnen sagen?“
„Tokio“, entgegne ich. „Über die Izu-Inseln-Route. Und vor allem muss die Maschine eine unbewohnte Steilklippe namens Loths Weib überfliegen – die Sofu-iwa-Insel.“
Ryan spricht den fremden Namen nach, um ihn sich einzuprägen.
„Ich erklär dir alles Weitere, sobald wir an Bord sind“, füge ich hinzu. „Minimale Crew, na, du kennst das ja schon.“
Meine Umrisse zerfasern bereits an den Rändern. Ryan zieht die Schultern hoch und stolpert um die Vorderseite des Gebäudes herum.
Als die Maschine ihre Flughöhe erreicht – wir haben gerade eine heftige Regenzone mit schweren Turbulenzen durchquert –, schnallt Ryan sich ab und geht zu der Couch im Heck der Maschine. „Rutsch gefälligst mal“, sagt er mit gespielter Entrüstung, als er mich dort sitzen sieht, ein paar dicke Kissen im Nacken und zwei andere neben mir, die ich für ihn reserviert habe.
Im vorderen Teil der Maschine, vor dem Cockpit, sitzt eine hübsche, freundliche Stewardess, die Hände nervös zwischen den Knien verkrampft. Seit sie Ryan an Bord begrüßt hat, geht sie ihm geflissentlich aus dem Weg. Ich spüre ihre wachsende Anspannung sogar von hier aus und werde auch immer nervöser. Ich hatte Zeit zum Nachdenken und das ist immer gefährlich.
Ryan hat die fünfundsiebzig Minuten Wartezeit, bis der Flug aus Le Bourget und eine entsprechende Crew organisiert waren, in der Passagier-Lounge des Hangars gut genutzt. Er ist frisch geduscht, hat irgendwie den schlimmsten Staub von seinem T-Shirt heruntergekriegt und riecht nach Seife und dem billigen Supermarkt-Deo, das Tommy ihm in den Rucksack gepackt hat. Mit seinem Telefon in der Hand setzt er sich neben mich und sieht sehr müde aus.
„Was ist so interessant an dieser Steilklippe?“, fragt er gähnend.
Ich lasse meinen Finger an seinem frisch rasierten Kinn entlanggleiten, an der Haut unter seinen Augen, die ein bisschen zerknittert aussieht. Er schließt kurz die Augen, legt seine Hand auf meine.
„Nichts weiter“, wispere ich. „Aber die Acht sollten sich dort nach der Schlacht in Mailand versammeln. Keine Ahnung, wie viele von ihnen da sind, vielleicht gar keiner. Ich soll ihnen ausrichten, dass Jehudiel und Selaphiel am Leben sind, und vielleicht ist dann Schluss für mich und ich lasse dich endlich in Ruhe. Und zwar für immer.“
Ryan zieht scharf die Luft ein. „Du machst Witze, oder?“
„Ich hab nachgedacht“, sage ich und starre düster auf seine breite Brust, weil ich ihm nicht in die Augen sehen kann. Ich schäme mich für meine Feigheit, aber ich komme nicht dagegen an. „Je länger ich hier bin, desto größer ist die Chance, dass Luc mich aufstöbert und dann die berüchtigte Endzeit einläutet, die er herbeiführen
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