Mercy, Band 4: Befreit
ein.
„Erinnerungen langweilen mich“, faucht sie. „Nimm sie, Turael, damit wir endlich gefeiert und erhoben werden, denn ich habe es satt, Lucs Gefangene zu bewachen und hier unten als Hüterin von Knochen, Staub und Steinen zu versauern. Mit ihr machen wir unser Glück und die Ordnung der Dinge wird nach unserem Bild wiederhergestellt. Die triumphale Heimkehr, die uns versprochen wurde, lässt viel zu lange auf sich warten. Soll sie doch mit eigenen Augen sehen, wie es in der Hölle zugeht.“
Ich spüre, wie Turael hinter mir näher rückt, spüre das Flirren seiner dunklen Energie und mir wird schlecht davon.
„Ich halte sie dir vom Leib, so lange ich kann“, röchelt Jehudiel und schaut mich mit einem tiefen Schmerz in den Augen an.
„Das ist nicht nötig, mein Freund“, murmle ich, während hinter mir eine Waffe aus Turaels Hand hervorschießt. Ich höre das Zischen der Klinge, die in dem fahlgrauen, hitzigen Licht pulsiert, das den Gefallenen anhaftet. „Du musst dich nur rechtzeitig ducken.“
Ein verwirrter Ausdruck huscht über Jehudiels Gesicht, als ich mich langsam zur Seite drehe.
„Wisst ihr was?“, sage ich zu den beiden Dämonen. „Ihr seid Fossilien aus grauer Vorzeit. Und dumm obendrein. Ihr habt ausgedient. Wollt ihr hören, warum?“
Nekael lacht abfällig. „Und das sagst ausgerechnet du, die sich nicht zu schade war, vor Jehudiel und Selaphiel mit ihrer Cleverness anzugeben! Turael hat dich gesehen. Du bist so schwachköpfig wie die Sterblichen, mit denen du neuerdings verkehrst.“
Ich überhöre ihre Worte und fahre leise fort: „Ihr seid so von Bosheit zerfressen, so darauf fixiert, die Herrschaft über das Universum an euch zu reißen, dass ihr euch ins eigene Fleisch schneidet. Mag sein, dass es euch gelingt, die schlechtesten Seiten in den Menschen hervorzubringen, aber ihr seht sie nicht, ihr begreift nicht, was sie geleistet haben, wozu sie fähig sind.“
„Ach, ich sehe sie nur zu gut“, lacht Nekael und zeigt ihren schlanken, anmutigen Hals mit den dunklen Zeichen darauf. „Und ich gebe zu, dass sie äußerst erfinderisch darin sind, Schandtaten jeglicher Art zu begehen, aber ansonsten sind sie Tiere. Und du verkehrst jetzt mit Tieren und bist ihre Hure, so wie du einst Luzifers Hure warst, H…“
Ihr tätowierter Mund ist drauf und dran, die erste Silbe meines Namens zu formen, und ich spüre, wie Turael mich an meinen langen Locken packt und mühelos hochhebt. Jetzt bleibt mir keine Wahl mehr. Die beiden wollten es nicht anders, und ich bin fast froh, als der Schmerz in mir explodiert.
Ich halte still, als Turael mich an sich reißt, und wende meinen Kopf zur Seite, als wollte ich ihm einen letzten Kuss auf die Wange drücken. Dann tauchen gedankenschnell zwei halb automatische Gewehre in meinen Händen auf – schlanke, schwere Waffen – und eine einzelne blaue Flamme züngelt über ihren Lauf. Man braucht weder Kraft noch Geschicklichkeit, um sie zu handhaben, nur Nähe und Idiotenglück.
Ich spüre, wie der Gewehrlauf in meiner brennenden Linken auf Turaels Kiefer trifft, und gleichzeitig richte ich die Waffe in meiner rechten Hand auf Nekael und blicke ihr dabei in die Augen. Ich kann ihre Gedanken hören: Aber Gewehre sind dumm. Menschenwerk, mit dem die Sterblichen sich gegenseitig ausrotten. Damit richtet man nichts gegen Engel oder Dämonen aus!
Und das stimmt – bis jetzt. Ich bin die Erste, die von Menschenwaffen Gebrauch macht.
Ein einziger Schuss löst sich aus beiden Gewehren, die so klein und unscheinbar neben den mächtigen Flammenschwertern meiner Feinde wirken. Aber die Kugeln sind tödlicher als jede Schwertklinge und absolut treffsicher, denn sie werden mit Gedankenschärfe abgefeuert, und ich selbst bin das Zielwasser, der Beschleuniger.
Nur ein kleiner Stich, wie von einem Moskito.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jehudiel sich nach rechts wirft, als die Welle aus Hitze und dunkler Energie, die einst Turael war, mich zu Boden schleudert. Ich bin taub und blind für alles um mich herum, mein innerstes Wesen hallt wider vor Schmerz, als wäre mein Körper eine Totenglocke. Und deshalb entgeht mir, wie die zweite Kugel einschlägt. Ich sehe Nekael nicht sterben. Ich spüre es nur. Spüre, wie die Atmosphäre sich zusammenzieht und zugleich unerträglich ausdehnt, wie das Brüllen der dunklen Materie, die zu Gott zurückkehrt, in den Katakomben widerhallt.
Nur Jehudiel und ich bleiben an diesem Ort zurück, an dem jetzt
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