Mercy, Band 4: Befreit
Oberfläche sieht es allerdings anders aus.
„Ist sie da?“, fragt sie Ryan ungeduldig. „Kann ich sie sehen?“
Obwohl sich alles sehr verändert hat, seit ich als Carmen dort gewohnt habe, erkenne ich das Zimmer im Hintergrund sofort wieder. Es ist Laurens Schlafzimmer mit der vertrauten Spiegelkommode. Aber jetzt ist es kein Mädchenzimmer mehr. Die Wand, die ich sehen kann, ist dunkelviolett gestrichen, Lauren hat alle Poster abgenommen. Und die Kommode ist so leer wie die Wand. Sämtliche Fotos und der ganze Krimskrams darauf sind verschwunden.
Ich sehe Ryan an, schüttle rasch den Kopf, forme mit den Lippen: Nein. Nein. Warte .
Aber Ryan drückt mir das Telefon in die Hand und funkelt mich drohend an.
Im ersten Moment erkennt Lauren mich nicht. Dann fragt sie vorsichtig: „Mercy? Bist du das?“
Ich will Ryan das Telefon wieder in die Hand drücken, und wir kämpfen einen Augenblick darum, sodass Lauren nur die sanft erleuchtete Kabine der Gulfstream sehen kann.
„Ryan?“, fragt sie. „Bist du da? Was ist los?“
„Na los, sag’s ihr“, zischt Ryan und schiebt meine Hand mit dem Telefon zurück. „Oder willst du, dass sie mich auch noch für komplett irre halten? Sag’s ihr. Zeig es ihr.“ Er hält mir das Display vors Gesicht. „Zeig es ihr!“, befiehlt er.
Lauren und ich starren einander schweigend an.
„Ryan, kannst du mich hören?“, fragt Lauren schließlich.
„Ja“, faucht Ryan. „Ich höre dich. Sie macht das absichtlich, Lauren, sie will mich als Lügner hinstellen. Na los, Mercy. Kannst du nicht ein Mal nachgeben – mir zuliebe?“
Lauren studiert lange meine elektronisch übertragenen Gesichtszüge, und dann glättet sich ihre Stirn. „Mercy?“, sagt sie zögernd. „Du bist es doch, oder? Du hast Carmens Haare. Ihre wilden Locken. Sogar dieselbe Länge. Ich weiß noch, wie ich dich … ich meine, Carmen … um ihre Haare beneidet habe, als ich bei ihr im Krankenhaus war. Man will ja immer das, was man nicht hat, stimmt’s?“
Sie verstummt, erschrickt über ihre eigenen Worte.
„Du siehst gut aus“, sage ich mit meinem fremden Mund, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. „Ich freue mich für dich.“
„Danke“, wispert sie. „Ich bin heute auch relativ gut drauf. Du bist … du warst einfach fort, und ich konnte mit niemandem sprechen, nachdem Jennifer wieder zu Hause war. Wie denn auch? Wie soll jemand, der nicht dabei war, verstehen, wovon ich rede?“
„Es tut mir leid, dass ich euch nicht schneller gefunden habe …“, sage ich.
„Hauptsache, du bist gekommen.“ Lauren senkt den Blick und fügt so leise hinzu, dass ich sie kaum verstehen kann: „Ich wäre gestorben.“
Ryan weigert sich immer noch, sein dummes Telefon zurückzunehmen. „Zeig es ihr“, bettelt er. „Mir zuliebe, ja? Ich will, dass sie dich so sieht, wie ich dich sehen kann.“
Er wünscht sich so verzweifelt, dass Lauren versteht, und in diesem Moment weiß ich selber nicht mehr, warum ich mich so dagegen sträube. Was ist schon dabei, wenn ich mich zeige? Wir sehnen uns doch alle nach einem Beweis. Also halte ich das Display wieder vor mich hin und verwandle mich. Nur ganz kurz, sodass Lauren mich einen Augenblick so sehen kann, wie ich wirklich bin. Ich höre, wie sie die Luft einzieht, als sie mein schimmerndes Haar, mein leuchtendes Gesicht sieht. Ich muss ihr in dem Display so strahlend erscheinen wie die Sonne selbst. Lauren schlägt die Hände vor den Mund, als ob ihr schlecht würde.
„Nein, kein Fototrick“, sage ich leise, „kein Special Effect. Nur ich. So seh ich aus, wenn ich meine freakige Engelsnummer abziehe.“
Ryan legt einen Arm um mich und nimmt mir mit seiner freien Hand sanft das Telefon ab. Das Flugzeug sackt plötzlich in ein Luftloch ab und wird von einer heftigen Böe erfasst.
„Pass auf ihn auf“, höre ich Lauren flehen.
Ich wende mein Gesicht von dem Display ab und nehme wieder meine menschliche Gestalt an. Ich kann mich nicht zu einer Antwort durchringen. Denn ich zittere jede Sekunde um ihn, in der er bei mir ist.
„Ich melde mich, sobald ich kann“, höre ich Ryan murmeln. „Und vielleicht können Mom und Dad nächstes Mal mit ihr sprechen. Aber sonst darf natürlich niemand davon erfahren. Also, mach’s gut, tschüss.“
Er schaltet das Telefon aus und schmiegt sich an mich, drückt den Mund in mein Haar. Aber ich gebe nicht nach, überlasse mich nicht dem Schlaf. Ich liege nur da und schaue auf die Sofalehne, gelähmt vor
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