Mercy, Band 4: Befreit
jederzeit wieder tun, dieses Mal allerdings aus den richtigen Gründen.
Ich nicke.
Jehudiel zieht mich auf die Füße, dann lässt er meine Hand los. „Geh, so schnell du kannst, und nütze jede Möglichkeit, dich und deinen …“ Er hält einen Augenblick ratlos inne. „Deinen sterblichen Gefährten nach Sofu-iwa zu bringen.“
„Er hasst Fliegen“, sage ich. „Nicht die menschliche Art, sondern meine. Ich hatte das Fliegen so lange verlernt, und als ich endlich meine Freiheit wiedererlangte, hätte ich fast nicht den Mut gefunden, es wieder zu versuchen. Jetzt kann ich es, muss aber auf Ryan Rücksicht nehmen …“
Jehudiel schaut in das Menschengesicht, das ich trage, und lächelt – ein Lächeln, das ihn so schön und strahlend macht, dass ich fast den Blick abwenden muss. „Wenn er dich liebt, muss er sehr stark sein“, sagt er leise. „Er wird überleben.“
Ich folge ihm durch den Gang nach oben, und seine Umrisse verschwimmen bereits, als wir zu dem Schacht in der Wand kommen, in dem sich die Leiter verbirgt.
„Selaphiel ist jetzt meine Bürde“, sagt er mehr zu sich selbst, „meine ganz allein.“ Er blickt über die Schulter zu mir zurück und ich weiß, dass ich diesen Moment nie vergessen werde. Gerade stand er noch vor mir, und nun ist er fort, in unzählige Lichtstäubchen zersprengt. Sein Lachen hallt gespenstisch durch den Gang, und seine Stimme sagt aus dem Nirgendwo: „Und wie du dem jungen Sterblichen, der dich liebt, erklären willst, wohin du gehst und warum, das sei dir selbst überlassen. Du warst ja immer sehr … erfinderisch.“
Dann ist er endgültig verschwunden. Und obwohl ich so erschöpft bin, dass ich nur noch sein will, mit Ryan zusammen sein will, bleibt mir keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
Ich höre Ryan laut aufschreien, als der Energiewirbel, in den sich Jehudiel verwandelt hat, Selaphiel von den Leitersprossen unter ihm wegreißt. Einen Augenblick hallt seine Stimme in dem engen Schacht wider, von leisem Lachen begleitet, und ich glaube zu hören: Beharrlichkeit, Ryan. Mut. Denn du wirst ihn brauchen.
Dann sind sie fort, meine Brüder, wirbeln hinauf wie Rauchschwaden. Der Schachtdeckel fällt klirrend zur Seite und gibt ein winziges Stückchen des Spätnachmittagshimmels über unseren Köpfen frei. Aber es sind noch mindestens dreißig Meter bis nach oben. Ich klettere rasch hinauf.
„Sag mir, dass du das bist, Mercy“, wispert Ryan mit bebender Stimme, „und kein Dämon, der gerade hier reingestolpert ist, so lautlos wie eine Katze, und nach frisch gefallenem Schnee riecht.“
Es soll witzig klingen, aber ich höre die Erschöpfung in seiner Stimme und weiß, dass er am Ende seiner Kräfte ist.
„Du Armer“, sage ich leise. „Es tut mir alles so leid. Aber ich habe dich gewarnt. Und es wird noch schlimmer.“
„Bring uns einfach hier raus“, sagt er nach kurzem Zögern. „Die schlechten Nachrichten kannst du dir für später aufheben, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben und der Dezemberwind uns um die Ohren pfeift.“
Bevor er es sich anders überlegen kann, verwandle ich mich in einen Energiewirbel, schlinge mich um meinen Geliebten und bringe uns durch den Schacht an die Oberfläche hinauf. In Sekundenschnelle ist alles vorüber.
Kaum dass ich mich in meiner menschlichen Gestalt neben Ryan materialisiert habe, der keucht wie nach einem Marathonlauf, falle ich auf die Knie und halte mir den Kopf. Ein gewaltiges Getöse erfüllt meine Ohren, als ob Luc über Raum und Zeit hinweg die Hand nach mir ausstreckte.
Im Untergrund hat mich der harte Fels vor seinen Nachstellungen geschützt, aber hier draußen kommt er von allen Seiten gleichzeitig, als ob der Wind mir mit seiner Stimme zuschrie: Es gibt keine Zuflucht, kein Versteck mehr für dich. Du bist nirgends vor mir sicher. Und wenn ich dich finde, werde ich dich in Stücke reißen, zur Strafe für das, was du mir angetan hast!
Ich darf auf keinen Fall zulassen, dass Luc uns hier sieht. Mir graut bei der Vorstellung, er könnte meine Gedanken lesen, sie direkt aus meinem Kopf ziehen, sobald sie entstehen. Ich spüre Ryans Hände auf meinen Schultern, höre ihn erschrocken meinen Namen rufen, und ich weiß, er war noch nie in so großer Gefahr.
„Nicht, wenn ich dich zuerst finde!“, heule ich als Antwort zurück, nahezu blind und taub vor Schmerz.
Mein Zorn, der aus so viel Schmerz und Verrat geboren ist – eine wilde, kreatürliche Wut –, ist wie ein
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