Mercy, Band 4: Befreit
Grabesstille herrscht.
Ich krieche über den schmutzigen, kalten Boden zu Jehudiel hinüber und sage in die Stille in seinem Kopf hinein: Bruder, du bist verletzt.
Jehudiel zieht sich langsam an der Wand hoch und seine zerfetzten Flügel lösen sich auf. Schweigend sieht er mich mit seinen dunklen Augen an, und ich knie vor ihm nieder, als würde ich ihn anbeten, wage es nicht, zu seiner hohen Gestalt aufzublicken.
Raphael behauptet seit Langem, du habest dich verändert, sagt Jehudiel leise in meinem Kopf. Und ich gebe zu, ich hielt es nicht für möglich.
Raphael ist verschollen , erwidere ich. Er war nicht in Mailand. Er wurde auch entführt. Aber nicht hier, sondern anderswo.
Jehudiel sackt bei dieser Nachricht in sich zusammen. Dann deutet er in die Luft, formt die Finger zu fremdartigen Waffen, zu Gewehren. Sag mir, wie du …?
Ich schenke ihm ein trauriges Lächeln. Wenn du lange genug in dieser Welt gelebt hast, wirst du verstehen, wie es möglich ist, etwas hervorzubringen, was uns Elohim so fremd ist.
Ich berühre zögernd seine Finger und da nimmt er meine Hand sanft in seine.
„Du tust mir wohl“, murmelt er. „Weil ich dich so unerwartet wiederhergestellt finde. Das erfreut mein Herz.“
„Mein Gedächtnis hat immer noch Lücken“, murmle ich. „So wie der Ort hier. Ich bin nicht heil, nicht ganz, nicht das Wesen, das ich einst war. Und vielleicht werde ich nie wieder so sein.“
„Du brauchst diese Erinnerungen nicht“, erwidert Jehudiel fest. „Du hast sie aus gutem Grund verloren – sei es durch dein eigenes Zutun oder durch Raphaels Eingreifen.“
Jehudiels Blick verschwimmt. „Selaphiel kann nicht hier bleiben, das weißt du. Diese Welt würde ihn umbringen. Ich muss dich um etwas bitten …“
Wahrscheinlich ist es ein unerfüllbarer Wunsch, aber ich sage trotzdem ohne Zögern: „Sprich.“
Jehudiel richtet seinen Blick wieder auf mein Gesicht und sein Lächeln ist jetzt traurig: „Weißt du, wie er es anstellt?“
Ich schüttle den Kopf, denn ich weiß, dass er von Luc spricht.
„Er nützt Risse und Verwerfungen an der Oberfläche, um sich selbst und seine Mächte unbemerkt in der Menschenwelt einzuschleusen. Er hatte jahrhundertelang Zeit, um die Brennpunkte und Schwachstellen aufzustöbern. Und er ist ein Meister darin, neue zu schaffen.“
Jehudiel verlagert mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Gewicht an der rauen Steinwand, die er im Rücken hat, und ich weiß, dass er auch innere Verletzungen haben muss. Schwere vielleicht.
„Sprich weiter“, sage ich leise.
„Wir Acht haben auch unsere Treffpunkte, unsere geheimen Verstecke. Michael wird nicht erfreut sein, dass ich dir davon erzähle, aber die Höhle von Maijlis al-Djinn ist ein solcher Ort. Oder die Krypten des alten Karthago, der Gipfel des Mount Pilatus, die Kalksteinterrassen von Pamukkele und viele andere mehr. Nach dem Treffen in Mailand …“, sein Blick wendet sich wieder nach innen, „… wollten wir uns an einem Ort versammeln, den die Sterblichen Sofu-iwa oder Loths Weib nennen. Kennst du ihn?“
Ich schüttle den Kopf. „Wo ist das?“
„Der Ort gehört zu einer Inselkette, die Izu-Inseln“, murmelt er und richtet sich an der Wand auf. „Hunderte von Meilen südlich der Stadt Tokio in Japan.“ Er wirft mir einen Blick von der Seite zu und lächelt. „Du hast die Stadt schon einmal gesehen – in einem anderen Leben. Sofu-iwa ist die südlichste der Inseln, steil, unbewohnbar, in einem so rauen Meer gelegen, dass Sterbliche dort nicht an Land gehen können, und daher ideal für unsere Zwecke. Alle, die den Kampf in Mailand überleben, sollten sich dorthin begeben und warten. Und neue Pläne schmieden.“
Er packt meine Hand fester und sein Gesicht ist ernst. „Und du sollst nun jedem, den du findest, erzählen, was sich hier zugetragen hat – dass ich am Leben bin, dass auch Selaphiel noch lebt und vor Luc in Sicherheit gebracht wurde. Wirst du mir diese Bitte erfüllen?“
Keine Kleinigkeit.
Aber wie kann ich Jehudiel, der doch sein Leben für mich riskiert hat, etwas verwehren? Und ich weiß jetzt, woher dieses Bedürfnis kommt, etwas zurückzugeben, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Es geht nicht mehr um einfache Rache oder Erlösung. Liebe und Treue haben allmählich die Macht, mein Herz zu rühren. Das Dämonentöten, das ich auf mich nehmen musste, ist mir in tiefster Seele zuwider. Ich genieße die Rache nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber ich würde es
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