Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
»Bentz dachte, er würde mir das Leben
retten, als er den Jungen erschossen hat. Ein ehrenwertes Motiv, trotzdem
halte ich ihn nicht für einen Heiligen. Er hat genauso Fehler gemacht wie wir
alle. Ich persönlich glaube, dass irgendein kranker Scheißkerl ihm was anhängen
will, und genau den sollten wir finden.«
Bentz umklammerte das Lenkrad und versuchte,
sich über die Grenze zwischen Realität und Einbildung klarzuwerden.
Hatte er Jennifer gesehen?
War die Wahnsinnige, die in den Ozean gesprungen
war, tatsächlich noch am Leben und machte sich über ihn lustig, oder war sie
nichts als ein Hirngespinst? Ohne eine Antwort auf diese Fragen zu finden,
fuhr er auf direktem Wege nach Encino. Das Einzige, was er mit Bestimmtheit
wusste, war, dass darin seine letzte Hoffnung bestand, jetzt, da es nicht mehr
möglich war, Olivia über ihr Handy-GPS zu orten.
Wie sehr hatte er sich an diese Möglichkeit
geklammert! Doch nichts war dabei herausgekommen. Wieder einmal. Und so war er
wieder hier in Encino, folgte einem weiteren Hinweis. Er war todmüde,
ausgezehrt von Schlafmangel und Sorge, doch er konnte nicht aufhören. Nicht
bevor er Olivia gefunden hatte.
Das Junior College, das Yolanda Salazar und ihr
Bruder Fernando Valdez besuchten, lag nur fünf Meilen von ihrem Haus in Encino
entfernt. Fernandos Arbeitsstelle, das Blue-Burro-Restaurant, befand sich genau
dazwischen. Fernando konnte die Strecke gehen, mit dem Fahrrad zurücklegen
oder den Bus nehmen, der vier Blocks vom Haus der Salazars entfernt hielt und
direkt am Restaurant vorbei zum Haupteingang des College fuhr. Er hätte sich
auch problemlos eins der anderen Fahrzeuge der Salazars ausleihen oder bei
Sebastian oder Yolanda mitfahren können. Die eigentliche Frage lautete doch:
Wer war die Frau, die er in Fernandos Wagen gesehen hatte? Die Frau, die er
gesehen hatte, als er im Krankenhaus aus dem Koma erwacht war? Genau das würde
er heute herausfinden, egal, was kommen mochte. Er hatte nicht viel zu
verlieren. Beim LAPD war er bereits unten durch, und daheim in New Orleans war
es ebenfalls fraglich, ob er in den aktiven Dienst würde zurückkehren können.
Alles, was im Augenblick zählte, war die
Sicherheit seiner Frau.
Er stellte seinen Mietwagen auf dem
Besucherparkplatz ab, machte das Registraturbüro ausfindig und zückte mit todernstem
Gesicht seine Dienstmarke. Ein ängstlich dreinblickendes Mädchen um die zwanzig
händigte ihm Fernandos und Yolandas Stundenpläne aus.
Mit Hilfe der kostenlosen Campus-Pläne, die auf
dem Tresen lagen, konnte er nachvollziehen, wo und wann Mario Valdez'
Geschwister an diesem Tag Unterricht hatten. Er hatte das frühe Seminar
verpasst, doch Fernando würde abends in der Sydney Hall sein. Gut. Bentz wollte
rechtzeitig vor dem Unterricht zurückkehren. Er konnte es kaum abwarten, sich
mit dem Jungen zu unterhalten.
Ich habe nicht viel Zeit. Es ist helllichter Tag
und ziemlich warm dafür, dass es am Morgen so kühl war. Der Nebel hebt sich,
aber das Risiko muss ich eingehen.
Von der Arbeit aus fahre ich direkt nach Hause,
lade das Foto von Olivia runter und drucke es aus. Ich trage dünne Handschuhe
... es gibt keinen Grund, jetzt nachlässig zu werden.
Das Ergebnis ist exzellent. Ich habe wunderbar
den entsetzten Ausdruck auf Olivias Gesicht eingefangen und alles
rausgenommen, das einen Hinweis darauf geben könnte, wo sie gefangen gehalten
wird. Alles, was auf dem Bild zu sehen ist, sind die Gitterstäbe des Käfigs und
eine mitleiderregende, gebrochene, verängstigte Frau, die verzweifelt in die
Kamera blickt.
»Schritt eins«, sage ich, zufrieden mit mir
selbst. Bevor noch mehr Zeit verstreicht, ziehe ich das Bild aus dem Drucker
und stecke es in einen gefütterten Briefumschlag. Mit der Post dauert es einen
Tag, ihm das Foto zukommen zu lassen. Ich beschließe, dass es Zeit wird, die
Dinge voranzutreiben. Ihm richtig zuzusetzen. Damit er weiß, wie sich diese
Leere, diese Verzweiflung anfühlen, wenn man jemanden verliert, den man liebt.
O ja. Rick Bentz wird schon bald erfahren, wie
grässlich es ist, ganz und gar allein zu sein.
Ich ziehe die Laufsachen an, stecke mein Haar
unter die Baseballkappe und setze eine riesige Sonnenbrille auf. Nicht gerade
die beste Verkleidung und ziemlich warm, aber es muss reichen. Der Jogginganzug
und der zwei Nummern zu enge Sport-BH verbergen meine Figur. Zufrieden kritzele
ich Rick Bentz' Namen auf den Umschlag, dann fahre ich schnell zu der
fürchterlichen
Weitere Kostenlose Bücher