Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
Absteige von Motel in Culver City.
Ein rascher Blick bestätigt mir, dass er nicht
da ist - sein neuer Mietwagen steht nicht auf dem Parkplatz. Ich stelle das
Auto ein paar Blocks entfernt ab und steige aus. Den Umschlag in der Jacke,
falle ich in einen leichten Trab. Ich achte darauf, mein Gesicht von den
Verkehrsüberwachungskameras abgewandt zu halten, und passe die Ampeln so ab,
dass ich kaum langsamer werden muss, um bei Grün die Straße zu überqueren. Ich
erreiche die Straßenecke beim So-Cal Inn, überquere den Parkplatz und lasse
den Umschlag vor dem Eingang fallen. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Jungen
hinter der Glastür, aber er ist nur mit dem Fernseher beschäftigt, der in der
Ecke steht.
Als ich zum Auto zurückjogge, verspüre ich ein
kribbelndes Gefühl der Erwartung. Jetzt muss ich eine Tankstelle suchen. Auf
der Toilette ziehe ich meine Arbeitskleidung an, richte mit einem Blick in den
gesprungenen Spiegel mein Haar und trage etwas Puder auf, um die geröteten
Wangen zu verbergen.
Ich bezahle die Tankfüllung in bar, steige ins
Auto und fahre los. Zum ersten Mal seit Jahren verlangt es mich nach einer
Zigarette, nur um meine Nerven zu beruhigen, doch ich schenke dem keine weitere
Beachtung. Wie gern würde ich einen kurzen Abstecher zum Motel machen, um
sicherzugehen, dass der dämliche Teenager den Umschlag gefunden hat! Ich reiße
mich jedoch zusammen. Kein Grund, unnötige Risiken einzugehen. Ich wünschte
nur, ich könnte Mäuschen spielen, wenn Bentz den Umschlag öffnet. Sein
Gesichtsausdruck ist mit Sicherheit unbezahlbar!
35
Bentz war unterwegs, als der Anruf kam. Auf dem
Display leuchteten Nummer und Name des So-Cal Inn auf. Er nahm das Gespräch an.
»Hi, hier ist Rebecca, die Managerin des So-Cal
Inn. Sie haben mich gebeten, Sie anzurufen, wenn irgendetwas Ungewöhnliches
passiert.«
Mit der freien Hand umklammerte Bentz das
Lenkrad. »Richtig.«
»Wir haben ein Päckchen mit Ihrem Namen vorn
drauf vor der Eingangstür gefunden.«
»Ein Päckchen?«, wiederholte er.
»Nun, einen Umschlag. Sie kennen doch diese
gefütterten braunen Dinger. Irgendwann am Vormittag. Ich dachte, Sie hätten ihn
verloren, als Sie losgefahren sind.«
»Nein.«
Bentz dachte an den letzten Umschlag, den mit
den Fotos von Jennifer und der mit einem Fragezeichen versehenen Sterbeurkunde.
Er zweifelte nicht eine Sekunde, dass dieser hier vom selben Absender stammte,
was sich auch immer darin befinden mochte. »Heben Sie ihn auf, aber öffnen
Sie ihn nicht. Ich bin gleich da. Sagen wir in zehn, fünfzehn Minuten.« Er
suchte nach einer Ausfahrt, wechselte die Spur und fuhr, fast ohne den Fuß vom
Gas zu nehmen, vom Freeway ab. Vor der roten Ampel an einer Kreuzung hielt er
an.
Noch mehr Fotos? Dokumente? Lieber Gott, bitte
mach, dass es um Jennifer geht, nicht um Olivia. Er klopfte nervös mit den
Fingern aufs Lenkrad. Was jetzt? Was zum Teufel sollte er jetzt tun?
Sobald er Grün hatte, bog er unter dem Freeway
scharf nach links ab und riss das Steuer herum zur Auffahrt auf die Interstate
405 nach Süden.
Er vermochte das Gefühl nicht abzuschütteln,
dass der Inhalt diesmal etwas mit Olivia zu tun hatte. Eine Lösegeldforderung?
Oder Schlimmeres? Sein Herz machte einen Sturzflug, und er konnte kaum schnell
genug nach Culver City kommen. Die Zeit schien stillzustehen, die Angst brannte
ihm ein Loch in den Magen, doch zehn Minuten später bog er auf den vertrauten,
mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz ein, stellte den Motor ab und ging
schnellen Schrittes ins Büro.
Rebecca erwartete ihn. Der besagte Briefumschlag
lag an der Rezeption. Auf dem gelbbraunen Papier stand sein Name in denselben
Druckbuchstaben wie auf dem ersten Umschlag.
»Ich hab ihn gefunden, als ich reingekommen bin.
Ich war in einem Zimmer, in dem der Schlüssel nicht funktionierte, und Tony saß
an der Anmeldung. Er hat nicht gesehen, wer ihn dort hingelegt hat.«
Argwöhnisch betastete Bentz den Umschlag.
Rebecca reichte ihm einen Brieföffner, und er schlitzte vorsichtig die Lasche
auf. Ein einzelnes Blatt Papier glitt heraus. »O Gott«, flüsterte sie und
schlug die Hand vor den Mund, als sie das Bild von Olivia erblickte.
Fast hätten Bentz' Knie nachgegeben. Er starrte
den Schnappschuss von Olivia an, seiner schönen Olivia, die direkt in die
Kamera schaute mit einem Ausdruck nackter, kalter Angst in den Augen.
Totenblass starrte sie durch Gitterstäbe, als befände sie sich in einem alten
Gefängnis
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