Mercy Thompson 01 - Ruf des Mondes-retail
nehme an, er erwartete einen Hirsch oder ein Wapiti, keine Kojotin. Und ganz sicher nicht mich.
Samuel war groß, selbst für einen Werwolf. Sein Fell war winterweiß, und seine Augen schienen beinahe die gleiche Schattierung zu haben, ein eisiges Weißblau, kälter als der Schnee, durch den ich lief, und noch verblüffender wegen des schwarzen Rings um die Iris. Es gab genug Platz für mich, unter seinem Bauch hindurch und zu der anderen Seite wegzuflitzen, was ihn zwischen mich und meine Verfolgerin brachte.
Bevor er Gelegenheit hatte, mehr zu tun als mich verblüfft anzusehen, erschien Leah, eine gold- und silberfarbene Jägerin, auf ihre eigene Weise ebenso schön wie Samuel, Licht und Feuer, wo er Eis war. Sie entdeckte ihn und kam mit einem unschönen Rutschen zum Stehen. Ich nahm an, sie war so auf die Jagd konzentriert gewesen, dass sie nicht auf Samuels Ruf geachtet hatte.
Ich konnte spüren, wie ihm klar wurde, wer ich war. Er legte den Kopf schief und erstarrte. Ja, er erkannte mich eindeutig,
aber ich hätte nicht sagen können, was er davon hielt. Einen Augenblick später drehte er sich zu Leah um.
Leah duckte sich und rollte auf den Rücken – dabei hätte sie als Brans Gefährtin einen höheren Rang haben sollen als Samuel. Wenig beeindruckt von dem Theater fletschte er die Lippen und knurrte, ein grollendes Geräusch, das tief in meiner Brust widerhallte. Es fühlte sich an wie alte Zeiten. Samuel beschützte mich vor dem Rest des Rudels.
Ein Wolf heulte in größerer Nähe als zuvor, und Samuel hörte lange genug auf zu knurren, um zu antworten. Er schaute erwartungsvoll nach Norden, und ein paar Minuten später kamen zwei weitere Wölfe in Sicht. Der Erste hatte die Farbe von Zimt und vier schwarze Füße. Er war sogar noch eine Spur größer als Samuel.
Der zweite war erheblich kleiner. Aus einem gewissen Abstand hätte er als einer der Wölfe durchgehen können, die erst in diesem Jahrzehnt angefangen hatten, nach Montana zurückzukehren. Sein Fell hatte alle Schattierungen von Weiß und Schwarz, die sich zu einem mittleren Grau verbanden. Seine Augen waren golden, und sein Schwanz hatte eine weiße Spitze.
Charles, der zimtfarbene Wolf, blieb am Rand der Bäume stehen und fing an, sich zu verwandeln. Er stellte unter Werwölfen eine Seltenheit dar, denn er war ein natürlich geborener Werwolf. Niemand hatte ihn zu dem gemacht, was er war. Charles war der Einzige seiner Art, von dem ich je gehört hatte.
Charles’ Mutter war eine Eingeborene gewesen, eine Salish, die Tochter eines Medizinmanns. Sie hatte im Sterben gelegen, als Bran ihr kurz nach seiner Ankunft in Montana begegnet war. Wenn ich meiner Pflegemutter glauben durfte, die mir die Geschichte erzählte, war Bran von ihrer Schönheit
so beeindruckt gewesen, dass er sie nicht einfach sterben lassen konnte, und so hatte er sie verändert und zu seiner Gefährtin gemacht. Ich hatte mir nie vorstellen können, dass Bran einmal auf den ersten Blick so verliebt gewesen sein sollte, aber vielleicht war er vor zweihundert Jahren wirklich anders gewesen.
Als sie schwanger wurde, nutzte sie jedenfalls das magische Wissen, das ihr Vater ihr gegeben hatte, um sich zum Herbstmond nicht zu verändern. Weibliche Werwölfe können keine Kinder bekommen; die Veränderung ist zu brutal, als dass der Fötus überleben könnte. Aber Charles’ Mutter, die Tochter ihres Vaters, verfügte über ein wenig eigene Magie. Es gelang ihr, Charles auszutragen, aber das schwächte sie so, dass sie kurz nach seiner Geburt starb. Sie hinterließ ihrem Sohn zwei Talente. Das erste bestand darin, sich leichter und schneller verändern zu können als andere Werwölfe. Das zweite war eine magische Begabung, die bei Werwölfen ungewöhnlich ist. Brans Rudel brauchte keinen Hexer einzustellen, um hinter ihnen aufzuräumen, sie hatten Charles.
Bran, der kleinere der beiden Wölfe, ging weiter zu der Stelle, wo ich auf ihn wartete. Samuel trat widerstrebend beiseite, obwohl er sich immer noch vorsichtig zwischen Leah und mir hielt.
Bran strahlte keinerlei Macht aus, nicht wie seine Söhne oder Adam – ich bin nicht sicher, wie er das anstellte. Man hat mir erzählt, dass manchmal selbst ältere Werwölfe, deren Sinne schärfer sind als meine, ihn wegen seiner geringen Größe schon für einen echten Wolf oder gar einen Wolfshund gehalten haben.
Ich weiß nicht, wie alt er ist, nur, dass er schon alt war, als er im 18. Jahrhundert als Fallensteller in dieses Land
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