Mercy-Thompson 03 - Spur der Nacht-retail-ok
konnte ich O’Donnells Gesicht klar sehen. Seine Augen verloren die Konzentration, aber sein Mund bewegte sich und bildete ein Wort, das auszusprechen er nicht mehr den Atem hatte. Zorn, nicht Angst, dominierte seine Miene, als hätte er keine Zeit gehabt zu begreifen, was geschehen war.
Ich bin kein besonders guter Lippenleser, aber ich wusste, was er zu sagen versuchte.
Meins.
Ich blieb, wo ich war, und zitterte noch minutenlang, nachdem O’Donnells Geist sich aufgelöst hatte. Es war nicht der erste Tod, dessen Zeugin ich geworden war – Mord gehört zu den Dingen, die dazu neigen, Geister zu produzieren. Ich hatte sogar schon selbst jemandem den Kopf abgeschnitten – das ist eine der wenigen Möglichkeiten, um dafür zu sorgen, dass ein toter Vampir auch tot bleibt. Aber selbst das war nicht so gewalttätig gewesen wie die Szene, deren Zeuge ich gerade geworden war, wenn auch nur, weil ich nicht stark genug bin, um jemandem den Kopf einfach abzureißen.
Schließlich erinnerte ich mich daran, dass ich noch gewisse Dinge erledigen musste, bevor jemand sah, dass sich ein Kojote am Tatort herumtrieb. Ich senkte die Nase zum Teppich, um festzustellen, was er mir sagen konnte.
Es war schwierig, die Gerüche zu unterscheiden, nachdem so viel von O’Donnells Blut in Sofakissen, Wände und Teppich gesickert war. Ich nahm eine Spur von Onkel Mikes Geruch in einer Ecke wahr, aber er verging schnell, und obwohl ich die Ecke eine Weile durchsuchte, roch ich ihn nicht wieder. Der Aftershave-Mann hatte sich ebenfalls im Zimmer aufgehalten, zusammen mit O’Donnell, Zee und Tony. Mir war nicht klar gewesen, dass Tony zu den Cops gehörte, die die Verhaftung vorgenommen hatten. Jemand hatte sich direkt hinter der Haustür übergeben, aber das hatte man aufgewischt, und es war nur eine schwache Spur davon geblieben.
Davon einmal abgesehen war es, als versuchte man, in einem Einkaufszentrum die Spur einer bestimmten Person zu wittern. Zu viele Leute waren hier gewesen. Wenn ich versuchte, einer bestimmten Witterung zu folgen, war
das möglich – aber alle Gerüche voneinander zu unterscheiden … würde einfach nicht funktionieren.
Ich gab auf und ging zurück zu der Ecke, wo ich Onkel Mike gerochen hatte, nur um zu sehen, ob ich seine Witterung noch einmal aufnehmen konnte – oder festzustellen, wie es ihm gelungen war, nur eine so schwache Spur zurückzulassen.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich schließlich aufblickte und den Raben sah.
5
E r beobachtete mich von der Tür aus, als hätte er einfach die offene Hintertür gefunden und wäre hereingeflogen. Aber Raben sind trotz ihrer Farbe und ihres Rufs keine Nachtvögel. Allein das verriet mir bereits, dass mit diesem Vogel etwas nicht stimmte.
Aber es war nicht das einzig Seltsame. Oder auch nur das Erste, was mir auffiel.
Sobald ich das Schimmern des Mondlichts auf seinen Federn bemerkte, roch ich ihn auch – als wäre er bis dahin nicht da gewesen.
Raben riechen nach dem Aas, von dem sie sich ernähren, und haben außerdem einen muffigscharfen Geruch, ebenso wie Krähen und Elstern. Dieser hier roch nach Regen, Wald und guter schwarzer Gartenerde im Frühling. Und dann war da seine Größe.
Es gibt in den Tri-Cities ein paar ziemlich große Raben, aber nicht zu vergleichen mit diesem Vogel. Er war höher als meine Kojotengestalt, etwa so groß wie ein Steinadler.
Und jedes Haar an meinem Körper sträubte sich, als eine Welle von Magie durch das Zimmer rollte.
Er machte plötzlich einen Sprung nach vorn, was seinen Kopf in das schwache Licht tauchte, das durch die Fenster einfiel. Er hatte einen kleinen weißen Fleck am Kopf, wie eine Schneeflocke. Aber am Auffälligsten waren die Augen: blutrot wie die eines weißen Kaninchens, und sie glitzerten seltsam, als er mich direkt anstarrte … und durch mich hindurch, als wäre er blind.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst, den Blick zu senken. Werwölfe legen viel Wert auf Augenkontakt – und das hatte ich mein Leben lang bedenkenlos ausgenutzt. Es macht mir nichts aus, den Blick zu senken und damit jemands Überlegenheit anzuerkennen und dann zu tun, was ich will. Bei den Werwölfen konnte ein dominanter Wolf mich, nachdem die Dominanz erst anerkannt war, schlimmstenfalls aus dem Weg schubsen … woraufhin ich ihn später ignorierte oder Pläne schmiedete, wie ich mich an ihm rächen konnte.
Aber das hier war kein Werwolf, und ich war vollkommen sicher, wenn ich mich auch nur
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