Meridian - Flüsternde Seelen
Jogginghose. Ich wollte ihn spüren, wollte den Unterschied zwischen unseren geheimen Orten erfühlen. Und vor allem wollte ich ihn in mir. Er schnappte nach Luft und hielt meine Hände fest.
Draußen begann Custos zu bellen und zu knurren. Tens erstarrte und lauschte. Ihr Gebell war wie eine warnende Salve und ihr Knurren ein dunkles Grollen, das den Bann brach.
Tens wich zurück und löste unsere ineinander verschlungenen Gliedmaßen. Seine Brust hob und senkte sich vor Anstrengung.
Der Schweiß auf meiner Haut kühlte ab. »Das ist nur ein Waschbär oder ein Opossum«, sagte ich.
»Vielleicht.« Er setzte sich auf die Bettkante und kehrte mir den Rücken zu. »Vielleicht auch nicht. Ich sehe nach.«
Ich richtete mich auf und küsste ihn zwischen die Schulterblätter. »Es ist nichts.« Am liebsten hätte ich ihn angefleht und Custos verflucht.
Einen Moment lang waren wir nur zwei verliebte Menschen gewesen, die einander begehrten, keine Fenestra und ihr Wächter, an denen sich ein kosmisches Schicksal erfüllte. »Bitte komm zurück.«
»Merry, ich habe keine …«
»Das macht nichts«, unterbrach ich ihn.
»Doch.«
Das Gewicht der Verantwortung senkte sich schwer auf meine Schultern. Tens’ versteinerte Miene, als er sein T-Shirt aufhob und es wieder anzog, verriet mir, dass die Nacht vorbei war.
»Ich gehe laufen.« Er griff nach seinen Turnschuhen und sah sich nicht um, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Lief er vor mir davon oder vor etwas anderem?
Kurz darauf sprang der Motor des Pick-ups an, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Als ich zum Fenster ging, sah ich, wie die Rücklichter in die Main Street einbogen.
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Kapitel 27
Juliet
D er kleine Wecker war auf vier Uhr gestellt. Um 3 : 31 schaltete ich ihn ab, weil ein Arbeitstag ohne Schlaf vermutlich leichter durchzuhalten war, als wenn ich nach wenigen Minuten im Bett schon wieder aufstand. Außerdem hätte ich ohnehin kein Auge zutun können.
Die Wände des DG schienen näher zu rücken, und ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit. Ich schlich mich zur Hintertür hinaus und lief den abschüssigen Rasen hinunter zum rückwärtigen Zaun. Mithilfe von Ästen und einem alten Baumstumpf kletterte ich auf den Zaun und sprang auf der anderen Seite hinunter. Die Kälte vertrieb das Schlafbedürfnis aus meinem Kopf.
Ich stieg auf meinen liebsten schief gewachsenen Baum, der über den Bach hing, setzte mich rittlings darauf, beugte mich vor und lehnte die Wange an die rauhe Rinde. Die Sterne schienen hell, und ein voller Mond ließ die Schatten und Schattierungen der Vegetation hervortreten. Grautöne, Schwarz, Blau und Braun wetteiferten mit Weiß und Beige. Um mich herum tobte eine Schlacht zwischen Licht und Dunkelheit.
Ich angelte das Stück Papier, das Nicole für mich fotokopiert hatte, unter meinem BH -Träger hervor und holte die Taschenlampe heraus, um zu lesen, was in diesem Teil meiner Akte stand. Was, wenn die Heimleiterin die Unwahrheit sagte und meine Mutter mich gar nicht im Stich gelassen hatte? Was, wenn sie mich geliebt hatte und mich hatte behalten wollen? Oder noch schlimmer: Was, wenn die Heimleiterin doch nicht log?
Es war eine handgeschriebene Notiz. Die Handschrift kannte ich nicht. Ich hielt sie näher ans Gesicht, um sie besser lesen zu können.
Juliet Ambrose, untergebracht im
Kinderheim St. Jerome Emiliani,
20 . März 1996 ,
Geburtsdatum: 10 . 02 . 1993 ,
kein Foto möglich, jährlich testen.
Den Namen des Kinderheims hatte ich noch nie gehört. Außerdem ergaben die Informationen nicht den geringsten Sinn. Ja, ich hatte am 10 . Februar Geburtstag, aber ich erinnerte mich an nichts aus meiner Zeit vor dem DG .
Hinter mir im Wald knackte ein Zweig. Als ich mich umschaute, erkannte ich Mini, die mich vom Ufer aus anmaunzte. »Du willst wohl nicht nass werden«, sagte ich.
Sie antwortete mit einem herablassenden Miau, das offenbar meine geistige Gesundheit in Frage stellte. Ich blickte ihr nach, als sie sich mit zuckendem Schwanz verzog. Dann beugte ich mich wieder über das Blatt Papier und versuchte, das Gelesene zu verstehen. Als ich wieder Ausschau nach Mini hielt, war da ein Hund – ein Wolf – und schmiegte die Schnauze an ihren Kopf. Der Anblick war so erstaunlich, dass ich vor Schreck beinahe ins Wasser gestürzt wäre. Sie schienen Freunde zu sein.
Erst dann bemerkte ich den Mann hinter den beiden im Wald, ein dunkler Schatten, der mich beobachtete. Ich schnappte nach
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