Meridian - Flüsternde Seelen
Wissen genügte nicht. Sie musste lernen, die Seelen durchzulassen, ohne dabei mitgerissen zu werden.«
»Was wäre sonst passiert?« Ich neigte den Kopf zur Seite und nestelte an der Rinde unter meinen Fingern herum.
Er zögerte. »Dann wäre sie auch gestorben.«
Ich schnaubte wieder. »Klingt ja aufmunternd.«
»Es geht noch weiter. Interessiert es dich?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. »Nur zu.«
»Das Mädchen wurde von bösen Engeln verfolgt. Sie wollten sie dazu zwingen, sich zu entscheiden, entweder die Menschen, die sie liebte, zu verlieren oder einer von ihnen zu werden.«
»Und kam dann ein Prinz auf einem Schimmel, um sie zu retten?«
»Nein, sie hat ihn gerettet.« Lächelnd schüttelte er den Kopf und schien sich an etwas zu erinnern.
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. »Und weiter?«
»Das Mädchen und der Junge erhielten Anweisungen, sich auf die Suche nach anderen zu machen, die so waren wie sie. Nach Menschen, die sich für das Gute einsetzten und den Seelen beim Übergang durch das Fenster halfen. Und dazu mussten sie unter allen Umständen mit den Bösen fertig werden.«
»Und?«
»Sie geben sich Mühe. Wirklich. Und nun haben sie ein anderes Mädchen gefunden und wollen ihm helfen.«
Ich sah, dass oben in der Mansarde des DG Lichter angingen. Nicole war aufgestanden. Zeit, sich an die Arbeit zu machen. »An deinen Geschichten solltest du noch feilen. Das ist ja richtig unheimlich.«
Er nickte. »Ich habe dir doch gesagt, dass Meridian es besser kann.« Er wich zurück, um mir Platz zu machen, als ich auf ihn zurutschte.
Rasch glitt ich den Ast entlang, bis meine Füße den Boden berührten. »Du schuldest mir eine Taschenlampe.«
Und ein Stück meiner Geschichte.
»Okay, wir hinterlassen dir eine hier draußen.« Offenbar hatte er noch etwas auf dem Herzen.
Das würde ich erst glauben, wenn ich es sah. »Klar, schon gut.«
Mini leckte dem Wolf die Schnauze. Ich hörte sie schnurren.
»Wie heißt der Wolf?«, erkundigte ich mich.
Er schluckte. »Custos. Das bedeutet Wächter.«
Ein komischer Name für ein Haustier. Ich ging zum Zaun.
»Willst du wissen, wie die Katze heißt?«, fragte er.
»Mini.« Ich kletterte über den Zaun.
»Minerva. Sie sagt, dass Bodie heute Pfannkuchen zum Frühstück möchte.«
Guter Versuch, du Spinner.
»Er mag keine Pfannkuchen.«
Tens zuckte mit den Achseln.
Ich drehte mich um und rannte zurück zum DG . Mini lief neben mir her. Als ich mich umdrehte, waren Tens und Custos verschwunden.
»Morgen.« In der Küche hatte Nicole schon den Kaffee aufgesetzt.
»Hallo.« Immer wieder schaute ich aus dem Fenster und rechnete damit, dass Tens dort stand und auf mich wartete. Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. »Es ist noch viel zu früh. Du solltest schlafen.«
»Ich wollte dir helfen.« Nicole suchte die Zutaten zusammen. »Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Verwirrt. Kurz vor dem Zusammenbruch. Total erledigt.
Sie verzog zwar das Gesicht, nahm meine Antwort aber hin. »Gestern Abend vor dem Einschlafen hat Bodie sich etwas absolut Komisches gewünscht. Er will zum Frühstück Pfannkuchen mit Schokostreuseln.«
Erschrocken hielt ich inne. »Er mag doch keine Pfannkuchen.«
Nicole zog die Stirn kraus. »Inzwischen offenbar schon.«
Zufall? Wahnsinn? Vielleicht.
Schweigend machten wir uns an die Arbeit. Schmutziges Geschirr, Wäsche und Hausputz warteten auf uns. Ich konzentrierte mich auf das Papier aus meiner Akte und versuchte, das wenige, was ich gelesen hatte, bevor es in den Bach gefallen war, zu ergründen.
»Hast du dir das Papier angeschaut?« Nicole senkte die Stimme. »Etwas Interessantes?«
Ich schaute mich um und fühlte mich, als rückten die Wände des DG näher heran, um unser Gespräch zu belauschen. Allmählich entwickelte ich einen Verfolgungswahn. »Nichts wirklich Hilfreiches. Bevor ich herkam, war ich in einem Kinderheim.«
»Erinnerst du dich daran? An bestimmte Leute?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß nur noch, dass ich hier in der Mansarde aufgewacht bin.« Und dass Kirian mir seine Freundschaft und Liebe und seinen Schutz angeboten hatte. Obwohl er mit neun nur drei Jahre älter war als ich, benahm er sich viel reifer und kümmerte sich um mich, bis ich die Regeln und den Tagesablauf kannte.
»Oh. Und sonst?« Sie schien enttäuscht.
»Kannst du … ich brauche … kannst du mir eine Kamera besorgen?«
Überrascht zuckte sie zusammen, fing sich aber
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