Meridian - Flüsternde Seelen
da?«
»Das habe ich noch nie lesen können.«
»Ist es Gälisch?«
»Keine Ahnung, ich glaube nicht.« Unten an den Steinen waren Flammen eingraviert, so kunstvoll, dass sie beinahe zu züngeln schienen. »Warum das Feuer?«
»Da kann ich auch nur raten. Feuer symbolisierte früher das Leben. Ohne Feuer, ohne Licht gab es keines.«
Ich beugte mich vor, um die Wörter zu entziffern. »Könnte es Arabisch, Sanskrit oder Russisch sein?«
»Ich weiß es wirklich nicht.« Rumi verzog konzentriert das Gesicht. »So etwas habe ich sonst noch nirgendwo gesehen.«
»Könnten deine Geschwister es vielleicht wissen?«
»Nein. Außer mir kommt niemand mehr hierher. Sie sprechen nicht über den Tod. Auch nicht über das Leben. Sie befassen sich nur mit harten Fakten.« Sein Gesicht war so voller Bedauern und Trauer, dass ich aufstand und ihn umarmte.
»Das tut mir leid«, murmelte ich in seinen Pullover hinein.
»Wenn Menschen sich etwas nicht erklären können, fürchten sie es entweder, oder sie nehmen es an. Meine Geschwister fürchten es. Ich habe beschlossen, es anzunehmen.«
Die übrigen Steine in der Nähe waren gewöhnliche Grabsteine, kleine Lämmer oder kniende Engel. Doch ein Stück weiter die Reihe entlang stand ein weiterer großer Fensterstein neben einem kleineren, in den ein Wappenschild eingemeißelt war.
Rumi führte mich hin. »Das sind die meiner Eltern, von meiner Ma und meinem Dad.«
»Ist das ein Schwert?«, fragte ich und beugte mich vor, um es mir genauer anzusehen. »Und ein Schild. Was ist darauf abgebildet?«
Rumi schob mich vorwärts. »Geh ruhig näher ran. Sie hat nichts dagegen.«
Ich versuchte, genau die schmale Trennlinie zwischen sicherem Terrain und der Stelle zu finden, wo vermutlich die Toten lagen. Es war ein seltsamer und nicht sehr anmutiger Versuch, nicht pietätlos zu sein.
Rumi lachte brüllend auf. »Du kannst auf die Gräber treten, Meridian. Das tut niemandem weh.«
Ich machte einen Schritt vorwärts. »Bringt das nicht Unglück?«
»Ich glaube, der Grund für diesen Aberglauben war, dass man früher in die Gräber hineinfallen konnte, wenn sie noch dabei waren, sich zu senken. Heutzutage werden sie mit Beton und Stahl abgestützt. Es besteht keine Gefahr.«
»Das wäre aber wirklich Pech. Oben auf dem Schild ist das Fenster abgebildet, unten die Flammen, richtig?« Ich fuhr sie mit dem Finger nach.
Er nickte. »Das sehe ich zumindest.«
»Hast du sie aufgestellt?«
»Nein, ich hatte schmucklose Granitsteine ausgesucht. Meine Eltern waren nicht wählerisch und hätten einen Schreck gekriegt, wenn die Beerdigung zu teuer geworden wäre. Also habe ich alles schlicht gehalten.« Aber diese Grabsteine waren alles andere als schlicht. »Ich weiß nicht, wer sie in Auftrag gegeben hat.« Rumi ließ sich im Schneidersitz im Gras nieder. »An dem Tag, an dem sie geliefert werden sollten, kam ich her. Obwohl ich pünktlich war, standen sie schon da. Es waren nicht die richtigen, aber Namen und Daten stimmten.«
»Hast du nachgefragt?«
»Natürlich. Ich habe den Steinmetz angerufen, und der meinte, sie hätten genau die rechteckigen Steine gebracht, die ich bestellt hatte. Er ist sogar persönlich hierhergefahren, weil er mir nicht geglaubt hat.«
»Und?«
»Er hatte auch keine Erklärung dafür. Also dachte ich, dass vielleicht meine Schwester dahintersteckt, weil sie wollte, dass sie zu den anderen Grabsteinen der Familie passen. Sie war es nicht, und es wäre ihr auch nie in den Sinn gekommen. Sie hat nichts Sentimentales an sich. Der Steinmetz hat sich erboten, die Steine zu ändern, aber ich habe sie so gelassen. Mir haben sie gefallen. Und wie ich schon sagte, kann ich mich gut mit dem Unerklärlichen arrangieren.«
»Gibt es noch andere Steine, die so sind wie der von deiner Mom?«
»Nein. Wahrscheinlich habe ich, wenn ich herkam, um mit meinen Eltern zu reden, sie selbst vor mir gesehen, nicht ihre Gräber. Und im Laufe der Jahre habe ich mich an die Grabsteine gewöhnt. Aber jetzt?«
»Jetzt müssen wir uns wieder fragen, wer sie aufgestellt hat.«
»Und warum«, fügte er hinzu.
Rumi und ich hatten immer noch keine Erklärung für die Grabsteine gefunden, als er mich vor der Hütte absetzte. Tens’ Pick-up stand in der Auffahrt, also war er selbst vermutlich im Haus. Beziehungskrise oder nicht, ich musste ihm unbedingt von diesem neuen Rätsel erzählen. Streiten konnten wir uns auch noch später.
Ich riss die Tür auf. »Tens?«
Keine
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