Meridian - Flüsternde Seelen
nicht mehr gegangen.« Sie betrachtete mich skeptisch und blickte dann auf ihre Füße.
»Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber Sie werden es schaffen.«
»Passiert das hier wirklich?«
»Ja.«
Sie drückte meine Hand und ließ los. Vorsichtig und mit kleinen Schritten näherte sie sich dem Fenster, hob ein Bein, schwang es über die Fensterbank und tat dann das Gleiche mit dem anderen. Sie hielt sich zwar am Fensterrahmen fest, aber das war überflüssig. Je mehr sie sich bewegte, desto geschickter wurde sie, und schließlich lief sie auf die Menschen auf dem bestellten Acker zu.
»Meridian!« Meine Tante winkte, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie war in Begleitung der jungen blonden Frau. Diese war zwar noch immer schrecklich entstellt, allerdings nicht mehr so durchscheinend, sondern stabiler und fester.
Sie hielt ein Schild hoch.
Ich spürte, wie die wirkliche Welt an mir zerrte, aber ich musste das Schild lesen. Also hielt ich mich an den Vorhängen fest und stemmte mich gegen den Sog. JULIETS MUTTER LIEBT SIE . STARB BEIM VERSUCH , SIE ZU BESCHÜTZEN , stand auf dem Schild.
Ich blinzelte und stellte fest, dass Joi mich anstarrte. Mein Gesicht war kalt und nass.
»Du bist in Ohnmacht gefallen. Wahrscheinlich der Schock«, sagte sie.
Sirenen verstummten ganz in der Nähe, und ich hörte Fußgetrappel.
»Bleib einfach still liegen«, wies Joi mich an. Um mich herum erklangen Klagelaute und Schniefen.
»Sie sind hier drin.«
Unbekannte Stimmen, die laut sprachen, drangen an mein Ohr. Ich setzte mich auf. »Alles in Ordnung. Das passiert eben manchmal.«
Joi wollte mich wieder zurück auf den Boden schieben. »Du solltest nicht aufstehen.«
»Nein, nein, es geht mir gut.« Ich rutschte aus dem Weg, als Sanitäter mit einer Trage hereinkamen.
»Das ist sie. Sie atmet nicht mehr.« Joi führte die Sanitäter zu Miss Howards sterblichen Überresten im Rollstuhl.
Ich nützte das Chaos, um mich aus dem Staub zu machen, ehe irgendwer Fragen stellte.
Nun verstand ich. Die unverletzte Seite des Gesichts der Frau sah aus wie eine etwas ältere Ausgabe von Juliet. Ich wusste nicht, warum mir das nicht schon früher aufgefallen war.
Tens war immer noch nicht zurück, doch der Schlüssel zum Pick-up lag auf dem Küchentisch. Ich griff danach, bevor ich Gründe finden konnte, nicht zum Dunklebarger zu fahren.
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Kapitel 30
E s gelang mir nicht, in aller Seelenruhe den Weg zum Dunklebarger entlangzuspazieren. Stattdessen fing ich an zu rennen. Die Vögel schienen meine Hast zu erahnen und stießen ihre Rufe aus. Die Sonne ging hinter den Bäumen unter, und ein seltsames kippeliges Gefühl kroch in meinem Magen hoch und beutelte meine Eingeweide.
Plötzlich sprang Minerva hinter einem umgestürzten Baumstamm hervor und stellte sich mir in den Weg, so dass ich vor Schreck innehielt. »Mist!« Ich beugte mich vor, um wieder zu Atem zu kommen. »Äh, entschuldige. Ich wollte dich nicht anschreien.« Ein Wesen zu verärgern, das in Verbindung mit den Schöpfern stand, hätte mir gerade noch gefehlt.
Minerva warf mir einen argwöhnischen Blick aus goldenen Augen zu. Das Zucken ihres Schwanzes verriet, dass sie ausgesprochen unzufrieden mit mir war. Dann maunzte sie fordernd und marschierte auf mich zu.
Ich rührte mich nicht.
Vor meinen Füßen blieb sie stehen und betrachtete mich eingehend. Im nächsten Moment stützte sie erst eine mit Krallen bewehrte Pfote und dann die andere auf meine Schienbeine und streckte den Rücken wie bei einer Yoga-Übung. Das Zupfen an meiner Jeans sagte mir, dass sie – ob absichtlich oder nicht – durchaus in der Lage war, mir die Beine zu zerfetzen. Sie begann zu schnurren wie ein angelassener Motor und miaute mich wieder an, als wollte sie … ich hatte keine Ahnung, was sie von mir wollte.
Langsam streckte ich die Hand nach unten, als müsste ich eine Kobra streicheln, und fuhr mit den Fingern vorsichtig über den weichen Flaum an ihren Wangen. Ich hatte einmal ein Chinchilla im Arm gehabt, das in der fünften Klasse unser Maskottchen gewesen war. Minervas Fell fühlte sich genauso an. Nur dass Minerva nicht einfach tot umfiel. Ich wartete auf den »Download«, wie es Tens passiert war, als er sie berührt hatte. Nichts. »Juliets Mom. Sie war es, die mit Tante Merrys Hilfe versucht hat, mit mir zu reden. Sie hat sie geliebt. War sie auch eine Fenestra? Kannst du mir das erzählen?« Als ich die Katze unter dem Kinn kraulte, wurde das Schnurren
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