Meridian - Flüsternde Seelen
Antwort.
Ich versuchte es wieder. Mein Puls beschleunigte sich, und mir schossen eine Million schreckliche Möglichkeiten durch den Kopf. »Tens?«
Kein Tens, kein Zettel, keine Custos.
»Meridian?«, rief Joi vom Gartenweg aus. »Alles in Ordnung?«
»Hast du Tens gesehen?«, rief ich zurück.
»Er und der Wolf sind vor etwa einer Stunde zu Fuß los. Joggen.«
»Oh.« Früher hatte er mir in solchen Fällen eine Nachricht hinterlassen, damit ich mir keine Sorgen machte.
Joi winkte mich heran. »Kannst du kurz reinkommen? Ich möchte dich gern einer Freundin vorstellen.«
»Klar.« Mit einem schicksalsergebenen Seufzer steuerte ich auf die Teestube zu.
Joi wartete mit weiteren Erläuterungen, bis ich in der Küche war. »Miss Howard wird heute einhundertundein Jahr alt. Sie ist ein Wirbelwind. Du wirst von ihr begeistert sein. Sie erinnert mich an dich.«
Der Gastraum war mit rosafarbenen und violetten Luftballons geschmückt. Gewaltige Arrangements aus Lilien und Flieder erfüllten den Raum mit Frühlingsduft. Im Fenster hing ein großes handgemaltes Schild mit der Aufschrift
Alles Gute zum Geburtstag, Judith!.
»Alles mal herhören, das ist Meridian«, kündigte Joi mich den anderen an und führte mich dann zu einer verhutzelten alten Dame im Rollstuhl am Ende der Tafel.
Ich war bei weitem die Jüngste hier und spürte, wie alle mich wohlwollend betrachteten.
»Oh, ist sie nicht hübsch?« Miss Howard streckte die Hände nach mir aus.
Joi machte mich mit ihr bekannt. »Miss Howard, das ist meine neue Freundin Meridian.«
Sie musterte mich mit zusammengekniffenen Augen und winkte mich zu sich. »Komm doch näher, mein Kind. Ich kann dich nicht sehen, wenn mich das Licht in den Augen blendet.«
Eine andere Dame verkündete, dass es nun Zeit für den Kuchen und das Geburtstagslied sei.
Als ich Miss Howards Hand berührte, stellten sich mir die Nackenhaare auf, und alle Alarmglocken schrillten.
Dann standen wir nebeneinander am Fenster. Sie brauchte den Rollstuhl nicht mehr, und ihre gerade noch arthritisch verkrümmten Finger waren so gerade und kräftig wie ihre Wirbelsäule.
»Du bist wirklich hübsch.« Hochgewachsen und strotzend vor Leben, verharrte sie neben mir und hielt weiter meine Hand. »Hast du einen Verehrer?«
»Äh, ja.«
Ich glaube schon.
Konnten sich Seelenverwandte trennen? Oder war das wie bei einer arrangierten Ehe, aus der es kein Entrinnen gab?
»Ach, da sind ja meine Jungen.« Sie wandte sich von mir ab und sah aus dem Fenster. »Was für eine reizende Geburtstagsüberraschung. Und das ist mein Ehemann. Er hat in drei Kriegen gekämpft, wusstest du das? Und meine Söhne Teddy, Billy und Ike waren auch bei der Infanterie. Doch sie leben schon lange nicht mehr. Ist das ein Film, mein Kind?«
Ich beobachtete, wie die Männer vortraten und ein leuchtendes Transparent entrollten. »Nein, das ist kein Film.« Ich wusste nicht, wie ich es anders ausdrücken sollte.
»Aber schau nur.« Kichernd zeigte sie mit dem Finger. »Hier steht ›Willkommen zu Hause, wir haben dich vermisst‹. Ich habe am Flughafen immer Schilder für sie hochgehalten. Jedes Mal wenn sie Urlaub hatten und mich besuchten, gab es ein neues Schild. Doch ich verstehe den Sinn nicht.«
Verdattert drehte sie sich zu mir um. Noch nie hatte ich eine Seele erlebt, die so gar nicht wusste, was sie tun sollte. Vielleicht verhielten sie sich ja nicht alle instinktiv.
»Miss Howard, Verzeihung, aber Sie sind tot.« Ich schluckte.
»Wirklich? Bist du sicher?« Sie blinzelte überrascht.
Ich nickte.
»Vierzig Jahre lang habe ich darauf gewartet. Bist du wirklich sicher?«
»Ja, Ma’am. Was meinen Sie damit, dass Sie darauf gewartet haben?«
»Teddy habe ich in Korea verloren, Billy in Vietnam, Ike wegen eines betrunkenen Autofahrers und meinen Mann an den Krebs, und das alles, bevor ich sechzig war. Es war schwer genug, den eigenen Mann zu begraben. Doch dass alle meine Kinder vor mir unter die Erde kamen, ist einfach nicht richtig. Ich habe immer gedacht, dass ich ja eine alte Frau bin und ohnehin bald sterben werde. Aber es passierte einfach nicht. Eine ganze Lebenszeit ist seitdem verstrichen.«
Tränen stiegen mir in die Augen. Es war unmöglich, sich nicht von den Gefühlen in ihrer Stimme anrühren zu lassen. Ihre Freude, Erleichterung und das Gefühl der Befreiung waren unermesslich.
»Was mache ich jetzt? Fliegen?«
»Gehen Sie zu ihnen. Durch das Fenster.«
»So weit bin ich schon seit einer Ewigkeit
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