Meridian - Flüsternde Seelen
»Nun, ich glaube, das wäre es für heute. Gleich kommt Gus und übernimmt, für den Fall, dass schon ein paar Kunden auftauchen. Offiziell geht es erst morgen los. Ich muss meiner Mum ein bisschen Whisky und Hyazinthen bringen. Meine Geschwister wohnen weit weg.« In seinem Gesicht zeichneten sich eine Trauer und Einsamkeit ab, die ich sehr gut verstand.
Ich warf einen Blick auf Tens, der noch immer Bretter schleppte und auf der Bühne herumkletterte. »Kann ich mitkommen?«
Seine Miene hellte sich auf. »Bist du sicher?«
Ich nickte. Auf einem Friedhof war es sicher auch friedlich. Außerdem standen die Chancen gut, dass ich dort keinen übergangsbereiten Seelen begegnen würde. »Ich sage nur rasch Tens Bescheid.«
»Ach, da ist ja Gus.« Rumi wies auf Gus’ VW Käfer. »Wir treffen uns an meinem Auto. Morgen laden wir weitere Glasobjekte aus und hängen die Kugeln auf. Ich habe auch winzige Glühwürmchen im Angebot, die ich schon das ganze Jahr mache und sammle.« Er rieb sich die Hände wie ein Kind. Ich war froh zu sehen, dass seine Augen wieder funkelten.
Ich schlenderte hinüber zu Tens und blieb zögernd stehen, während er die letzte der riesigen Holzkisten auf die Bühne wuchtete.
»Tens?«, fragte ich und ärgerte mich, weil meine Stimme vor banger Erwartung zitterte.
Er drehte sich um. Sein Haaransatz war nassgeschwitzt, und er hatte sich ausgezogen bis aufs T-Shirt, das seine breiten Schultern und seine langen, kräftigen Muskeln betonte.
Er lächelte verhalten, als hoffte er, der Streit sei ausgestanden.
Ein Mädchen, das mit einer Gruppe von Freundinnen vorbeispazierte, glotzte ihm unverhohlen auf den Hintern, warf ihr Haar zurück und leckte sich die Lippen. Dann fingen sie und ihre Freundinnen zu kichern an. Ich knirschte mit den Zähnen. »Ich fahre mit Rumi mit. Wir sehen uns zu Hause.«
»Aber …«
Ich drehte mich um und ging davon. Ich wollte die Gründe nicht hören, warum es gefährlich sei, wenn ich mich aus seiner Gegenwart entfernte. Ich hatte nämlich so ein Gefühl, als ob ich mich daran würde gewöhnen müssen.
[home]
Kapitel 29
N achdem wir rasch etwas zu Mittag gegessen hatten, fuhren wir zum Friedhof Riverside. Hinter uns befanden sich die Bahngleise, vor uns erhoben sich Hügel, auf denen die Grabmale verteilt waren wie Damesteine. Auf den Rasenflächen wuchsen riesige alte Bäume.
Ich öffnete das Tor, damit Rumi hineinfahren konnte. »Wie alt ist dieser Friedhof?«, erkundigte ich mich, während ich wieder ins Auto stieg.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich stammt er noch aus der Zeit des Bürgerkriegs. Auf manchen Grabsteinen stehen Daten aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Siehst du diese Anhöhe da?« Rumi bog in eine Straße ein, die kaum breit genug für ein Auto war und quer über den Friedhof den Hügel hinaufführte.
»Den kleinen Berg da?«
»Der ist künstlich. Eine Begräbnisstätte der Ureinwohner. Vermutlich galt dieser Ort beim Eintreffen der Siedler als heilig, weshalb sie ihre Toten ebenfalls hier bestatteten. Dort hinten steht die Ruine einer kleinen Steinkapelle. Vor dieser Zeit hat man einen Verstorbenen einfach auf seinem eigenen Grundstück begraben.«
»Wie groß ist denn der Friedhof?«, fragte ich, als wir parkten und ausstiegen.
»Ich weiß nicht. Viele Hektar in drei Richtungen. Unser Familiengrab ist da vorn.«
Ich blieb am Wagen stehen. »Soll ich hier warten?«
Rumi nahm eine Flasche Whisky und einen Blumenstrauß aus dem Kofferraum. »O nein, ich stelle dich allen vor. Ich bin neugierig, was du zu den Grabsteinen meiner Familie sagst. Vielleicht besteht ein Zusammenhang zu den Zeichnungen. Hier wimmelt es im Sommer nur so von Pfingstrosen und wilden Rosen. Es ist wunderschön. Und am Memorial Day finden Picknicks statt.«
»Picknicks? Auf dem Friedhof?«
Er nickte. »Alle Generationen der Familie versammeln sich. Sie reinigen die Grabsteine, pflanzen Blumen oder bringen frische Sträuße mit. Bei schönem Wetter werden auch Fußballspiele veranstaltet.«
»Auf dem Friedhof?«
»Hast du je von Allerheiligen gehört? Oder dem Tag der Toten in Mexiko?«
»In Gemeinschaftskunde.« Glaubte ich wenigstens.
»Nun, dann nimm diese Tradition und vermische sie mit den Totenwachen der Einwanderer, dem Shiva-Sitzen der Juden und dem amerikanischen Memorial Day, und du hast Generationen von Familien, die ihrer Vorfahren gedenken.«
»Es ist phantastisch hier. So friedlich und beinahe …«
»Heilsam?«
Ich nickte.
Weitere Kostenlose Bücher