Meridian - Flüsternde Seelen
Zusammenhang mit Juliet? Soll ich sie warnen?«
Minerva antwortete nicht.
Ich wurde langsamer, als wir uns dem Zaun näherten, doch da sie unbeirrt weiterlief, richtete ich mich nach ihr. Offenbar drohte im Moment keine Gefahr.
»Frohe Weihnachten!«, rief eine aufgeregte Kinderstimme.
»Bodie?« Erschrocken blickte ich in die Bäume hinauf, wo ich ihn vermutete. Er kletterte herunter. »Verzeihung, du bist ja ein Affe. Ich dachte schon, dass da ein kleiner Junge ist. Hast du einen kleinen Jungen gesehen, der Bodie heißt?«
»Das bin ja ich!« Er umarmte meine Beine.
»Nein!« Ich tat, als glaubte ich ihm nicht.
»Doch!« Er kicherte.
Ich kitzelte ihn, bis wir uns beide lachend und prustend im Gras wälzten. Offenbar waren meine Lachmuskeln verkümmert, denn mir tat der Bauch weh. »Wie läuft es denn so?«, fragte ich und stützte mich auf den Ellbogen.
Bodies Miene verfinsterte sich. »Juliet ist sehr müde. Sie geht bald fort. Ich will mit.«
»Fort?«
Er nickte. »Alle gehen fort. Wenn sie Geburtstag hat, muss sie weg.«
»Wohin?«, erkundigte ich mich.
»Weiß nicht.«
»Glaubst du, du könntest sie dazu bringen, mit mir zu reden?«
»Ich kann Nico holen. Aber Juliet arbeitet. Die Heimleiterin kann sie nicht leiden.«
»Könntest du vielleicht …« Ich verstummte, denn es kam mir brisant vor, einen Sechsjährigen mit dem Überbringen einer möglicherweise lebenswichtigen Nachricht zu beauftragen.
»Was? Ich kann alles. Ich bin stark, tapfer, klug«, verkündete er und reckte bei jedem Wort weiter die kleine Brust.
»Kannst du Juliet etwas von mir ausrichten? Es ist sehr wichtig.«
»Unterschätze mich nicht. Das ist eine Beleidigung.« Bodie drohte mir mit dem Finger. Sofort musste ich wieder an Sammy denken. Er hatte das auch getan und dabei ebenfalls geklungen wie ein Erwachsener.
»Okay. Sag ihr …« Was sollte er ihr denn sagen? »Sag ihr, Meridian hätte ihre Mom getroffen. Juliets Mom hat sie lieb und passt auf sie auf.«
»Warum kommt sie dann nicht her?«, fragte er.
»Das kann ich jetzt nicht erklären. Aber kannst du ihr das sagen?«
»Du hast ihre Mom gesehen. Ihre Mom hat sie lieb und passt auf sie auf.«
»Ja, und da wäre noch etwas. Sie muss kommen und mit mir reden.«
»Kommen und mit dir reden. Verstanden.«
»Bodie, sei vorsichtig. Erzähl es ihr nicht, wenn Erwachsene dabei sind.«
»Natürlich nicht. Wir sprechen vor Erwachsenen nie über wichtige Sachen.« Er lächelte. »Bringst du mir beim nächsten Mal Süßigkeiten mit? Nicole hat Karamellbonbons, aber ich mag Kaugummi mit Traubengeschmack.«
Ich nickte. Das war kein Problem. »Okay.« Wenigstens hatte er mich diesmal nicht gebeten, ihn zu adoptieren.
»Versprochen?«
»Klar. Ehrenwort. Traubenkaugummi. Den sollst du haben.«
Er verschwand über die Böschung. Minerva holte nach meinem Kopf aus.
»Ich gehe ja schon.« Ich schlich mich zurück in den Wald und rannte den ganzen Weg zum Auto. Ich musste Sammy anrufen. Und Tens umarmen.
Als ich auf den Parkplatz einbog, war Tens noch immer nicht zurück. Die Teestube war geschlossen und menschenleer. Ich öffnete die Tür zur Hütte und knipste alle Lichter an. Erschaudernd betrachtete ich das Telefon. Ich spürte Tränen auf den Wangen.
»Supergirl?« Tens machte die Tür auf, durchquerte mit langen Schritten den Raum und nahm mich in die Arme. »Was ist los? Was ist passiert?«
Ich ließ mich von ihm festhalten. Seine Wärme und Kraft vertrieben meine Ängste. »Nichts«, murmelte ich, die Lippen an seinem Hals.
Er wartete, bis ich mich ausgeweint hatte, und umarmte mich genau richtig, nicht zu eng oder erdrückend.
Schließlich wischte er mir mit dem Ärmel seines Sweatshirts das Gesicht ab und hielt ihn mir dann an die Nase. »Nase putzen«, befahl er.
Ich war machtlos dagegen, ich musste lachen. Liebe bedeutete, dem Rotzmonster einen Ärmel zu opfern.
»Was ist?« Er war verdattert. »Du bist ganz verschleimt, und ich komme nicht an die Kleenex ran.«
Wie er das Wort
verschleimt
aussprach, brachte mich noch mehr zum Lachen. Schließlich lächelte und kicherte er auch, und bald krümmten wir uns in einem von den Lachanfällen, die mit jedem Blick immer schlimmer wurden.
Lächelnd und wie neugeboren schmiegte ich mich an ihn.
Er strich mir mit dem Daumen über Wange und Lippen. Seine Miene wurde ernst. »Warum haben wir eigentlich gestritten?«
»Ich weiß nicht mehr.« Das stimmte. »Und du?«
Er schüttelte den Kopf. »Deshalb habe
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