Meridian - Flüsternde Seelen
ich ja gefragt. Als ich reinkam, war ich voll darauf eingestellt, sauer zu sein. Dann habe ich dich gesehen und den Grund vergessen.«
Ich fuhr seine Augenbrauen nach, schmale Rabenschwingen über seinem pechschwarzen Blick. »Ich habe Fenestragräber gesehen. Außerdem ist eine alte Dame gestorben. Da habe ich meine Tante wieder getroffen. Juliets Mom war auch dabei. Minerva hat mir ein Bein gestellt, und dann war da eine Aternocta mit ihrem jungen Lover, und Bodie ist gekommen …«
»Sprich langsamer und fang ganz von vorn an.« Er rutschte zur Seite, streifte die Turnschuhe ab, legte die Füße auf den Couchtisch und drückte mich fester an sich.
Also begann ich ab dem Moment, als Rumi und ich das Festival verlassen hatten.
[home]
Kapitel 31
Juliet
K ein Personal und weniger Kinder hatten zur Folge, dass ich die ganze Nacht auf den Beinen war, um die Heimleiterin nicht zu verärgern. Am nächsten Morgen konnte ich mich kaum noch aufrecht halten und war gereizt und nicht mehr in der Lage, Mitgefühl zu empfinden. Ich musste gegen den Drang ankämpfen, mich in meine Abstellkammer einzuschließen und nicht mehr herauszukommen.
Bodie zupfte mich am Hosenbein. »Juliet, ich muss dir etwas sagen.«
»Nicht jetzt, Bodie.«
»Aber …«
»Erzähl es Nicole.« Ich schob ein sauberes Kissen unter den schlaff daliegenden, knochigen Schädel von Enid, einer der beiden Schwestern. Die heutige Liste von Erledigungen erschien mir noch unmöglicher zu bewältigen als sonst.
»Aber …«
Die Schwestern lagen in ihren Betten. Ich hatte es ihnen so bequem wie möglich gemacht. Eine war bewusstlos und würde vermutlich nicht mehr aufwachen. Offenbar stand sie schon seit Wochen an der Schwelle des Todes und war kurz davor, für immer Abschied zu nehmen. Der Pfleger hatte nicht gewusst, was sie am Leben erhielt, da es sämtlichen Gesetzen der Biologie widersprach. Die andere Schwester hatte eine gebrochene Hüfte. »Sie wissen ja, was mit alten Damen passiert, die sich die Hüfte gebrochen haben«, meinte die Krankenschwester zur Heimleiterin.
Das wussten wir sehr wohl. Deshalb kamen sie ja hierher.
Ich wechselte die Bettwäsche, holte das Tablett mit dem Essen, füllte den Wasserkrug nach und überprüfte, ob sie kalte Füße hatten. In diesem Fall gab es immer eine zusätzliche Decke. Das war nicht weiter schwer. Meine eiskalten Füße wurden niemals warm, weshalb ich wünschte, mich würde auch mal jemand zudecken.
»Ach herrje, das kitzelt.«
Ich machte einen Satz zurück und schaute rasch in Richtung der Stimme, die vom Kopfende des Bettes her kam.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken, meine Liebe.« Sie schien ehrlich zerknirscht und rieb sich mit einer zittrigen Hand die Augen.
»Hallo«, sagte ich. »Ist schon gut. Ich wollte nur nachsehen, ob Sie eine zweite Decke brauchen.«
»Ich bin Enid Fairchild.« Lächelnd hielt sie mir die Hand hin. Das schlohweiße Haar klebte ihr wie eine Kappe am Schädel. Offenbar trug sie es normalerweise zu winzigen Löckchen gedreht.
»Ich bin Juliet … äh … Ambrose.« Vorsichtig, um ihr nicht weh zu tun, schüttelte ich ihr die Hand. Die Patienten hier waren selten bei Bewusstsein oder gesprächig. Aber wenn sie es waren, lernte ich mehr als in einer Bibliothek.
»Machen Sie ein Sozialpraktikum, mein Kind?« Sie versuchte, sich in den Kissen aufzurichten.
Ich beugte mich vor und unterstützte sie dabei, bis sie nickte. »Was ist ein Sozialpraktikum?«, erkundigte ich mich.
»Wenn junge Leute ehrenamtlich in einem Krankenhaus aushelfen. Möchten Sie Krankenschwester oder Ärztin werden?«
»Nein!« Beinahe hätte ich geschrien. Ich hatte zu viel Zeit meines Lebens damit zugebracht, andere zu pflegen, um so einen Beruf auch nur entfernt ins Auge zu fassen. »Verzeihung.« Ich wich vom Bett zurück und rechnete damit, dass sie mich zurechtweisen würde, weil ich die Stimme erhoben hatte.
Blinzelnd blickte sie sich um. »Wir sind nicht mehr im Krankenhaus, richtig?«
Ich kaute an meinen Nagelhäuten. Wie sehr ich es doch hasste, die Überbringerin der schlechten Nachricht zu sein. »Nein, Ma’am, Sie sind im Dunklebarger-Rehazentrum.«
»Das ist ja ein richtiger Zungenbrecher. Wie findest du den Namen, Glee?« Sie versuchte, ihre Schwester zu tätscheln, und als sie sie nicht erreichen konnte, senkte sich Trauer wie ein greifbarer Vorhang über das Bett. »Könnten Sie uns näher zusammenschieben? Bitte«, fragte sie.
Ich löste die Bremse der Rollen an Glees
Weitere Kostenlose Bücher