Meridian - Flüsternde Seelen
herumspazieren, wenn Sie keinen bestimmten Patienten besuchen. Das verstößt gegen die Vorschriften.«
»Keine Angst, Dinah.« Tens beugte sich vor, als wären sie die einzigen beiden Menschen auf der Welt – nicht, als hätte er nur einen raschen Blick auf ihr Namensschild geworfen. »Wir verraten es niemandem.« Ohne ihr Zeit für eine Antwort zu geben, scheuchte er mich zu den Aufzügen.
»Gut gemacht«, sagte ich. Als sich die Aufzugtüren hinter uns schlossen, war die Empfangsdame bereits mit einem anderen Plagegeist beschäftigt. »Wenn du deinen Charme spielen lässt, bist du beinahe unwiderstehlich.«
Auf dem Weg von Colorado hierher und auch aus dem Buch meiner Tante hatten wir erfahren, dass Krebs – abgesehen von einer Massenkarambolage – die beste Gelegenheit war, eine zum Abschied bereite Seele zu finden. Die beliebte Phrase, dass der Krebs einem weder Würde, Hoffnung, Selbstwertgefühl oder sonst etwas raubte, war absolut lächerlich. Leute, die mit solchen Sprüchen um sich warfen, waren noch nie einem Krebskranken im Endstadium begegnet. Der Krebs raubte einem alles bis auf die Sehnsucht nach Erlösung.
»Kannst du mir den Trick beibringen?« Ich bohrte ihm den Finger in die Rippen.
Er tat meinen Sarkasmus ab und griff nach meiner Hand. »Hast du heute genug gegessen, um das durchzustehen?« Sein Tonfall verriet Besorgnis.
»Mir geht es prima. Keine Angst.« Ich hoffte, dass ich zuversichtlich und gut vorbereitet klang.
Ich hielt seine Hand fester, als es mir die Nackenhaare aufstellte.
Auch wenn der Mensch sich nicht mehr als Jäger oder Gejagter sah, das Nervensystem hatte noch nichts davon mitbekommen. In Gegenwart von Toten oder Sterbenden reagierte meines noch immer. Zumindest konnte ich es inzwischen als Frühwarnmodus betrachten, so dass es mich nicht mehr so sehr ängstigte.
Als sich die Aufzugtüren in der Krebsstation öffneten, begann eine elektronische Symphonie aus Alarmsignalen und Glocken zu gellen. Ärzte und Schwestern hasteten vorbei wie Hamster im Laufrad. Meine Anwesenheit hier würde für einige Hektik sorgen.
Alles verschwamm mir vor den Augen, und es wurde dunkel um mich, als Tens mich in eine Nische lotste, wo eine Bank stand. Ich klammerte mich daran fest, als die erste Seele gegen mich prallte. Tens legte mich auf die Polster und stützte mich mit seinem Körper, während ich zum Fenster gezogen wurde.
Am Anfang meiner Ausbildung zur Fenestra hatte meine Tante mich angewiesen, mir ein Fenster vorzustellen, das auf eine Sommerlandschaft hinausging. Doch seit ihrem Tod gelang mir das aus unerklärlichen Gründen nicht mehr. Wenn ich alles richtig machte, war ich, laut Tante Merry, der Kanal, das Fenster zum Himmel und zum Guten. Die Sterbenden nahmen mich nicht als junges Mädchen wahr, sondern als strahlendes Licht, das sie über den körperlichen Tod hinaus in die spirituelle Energie des Jenseits führte. Ich stellte ein Fenster in einem Raum meiner Wahl zur Verfügung und hielt mich im Hintergrund, während die Seele in eine andere Welt überging wie ein Kind, das sich aus dem Haus stahl, indem es heimlich aus seinem Zimmerfenster kletterte. Unterdessen blieb ich im Diesseits. Was die Seele des Sterbenden sah und von wem sie begrüßt wurde, lag einzig an ihr und an den Schöpfern. Ich wusste nicht, wie das vonstatten ging, nur dass die Sterbenden die Szene und die Menschen, die auf sie zukamen, erkannten. Bei mir war das normalerweise nicht so – bis zur Begegnung mit meiner Tante.
Eine Seele, zwei, drei
…
Es lief nicht so ab, wie sie es mir beigebracht hatte. Die Fenster veränderten sich in rascher Abfolge, als eine Seele nach der anderen durch mich hindurchging. Sie wechselten mit den Seelen und unterschieden sich von Mal zu Mal.
Es war, als schaute ich mir einen Diavortrag mit Reisefotos im Schnelldurchlauf an. Mein Verstand konnte mit den ständig neuen Bildern, Szenen und Menschen nicht mehr mithalten. Moderne Architektur mit viel Glas, Licht und Chrom wurde erst von steinernen Bögen, dann von Bambusstangen und Reispapier abgelöst. Jede Seele transportierte mich in ihr Leben.
Vier, fünf
…
Inzwischen wusste ich, dass ich während der Veränderungen einfach nur ruhig durchatmen musste und nicht versuchen durfte, die aufblitzenden Bilder zu verstehen. Da es mich nur verwirrte, ihnen folgen zu wollen wie einem Film, ließ ich sie über mich hinwegbranden, als stünde ich auf einer von Eindrücken und Geräuschen wimmelnden, belebten
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