Meridian - Flüsternde Seelen
draußen? Was beobachtete uns? Was – oder wer – bestückte gerade die Falle mit Ködern? »Tens?«
Custos neben sich, blieb er an der offenen Tür stehen.
»Ich wünschte …« Ich verstummte, weil ich nicht wusste, wie ich mich ausdrücken sollte.
Er wartete ab. »Was?«
»Ich … schon gut.« Mir fehlten die Worte.
Er runzelte zwar die Stirn, glaubte mir aber. Oder er ließ es wenigstens darauf beruhen und ging in die Nacht hinaus. Custos wedelte winselnd mit dem Schwanz.
Warum hatte ich nur das Gefühl, dass sie meine Gedanken las, noch ehe ich selbst sie kannte?
Nachdem wir unsere Taschen geöffnet und unsere Sachen einigermaßen sortiert hatten, schlüpfte ich in den Schlafanzug, der noch vor einem Monat zu lang und schlabberig gewesen war, doch inzwischen von Nacht zu Nacht enger und kürzer zu werden schien, und schrubbte mir das Gesicht. »Mein Pyjama ist kleiner geworden.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Tens setzte sich aufs Sofa und schnitzte eines seiner Holzklötzchen zu einem Tier und Märchengeschöpf.
Wird er heute Nacht ins Bett kommen, bevor ich eingeschlafen bin, oder bis dahin warten? Geht er mir absichtlich aus dem Weg?
»Warum hast du nichts gesagt? Wachse ich etwa auch?«
»Du isst mittlerweile richtig. Du bist gesünder. Also wächst du. Was meinst du mit
auch?
«
»Du bist größer geworden.« Ich setzte mich auf und betrachtete ihn.
»Du ebenfalls.« Er zog eine Augenbraue hoch.
»Und breiter.«
»Du auch.« Ein leichtes Nicken.
»Offenbar bekommt uns das Essen.« Ich lächelte. Andere Mädchen mochte es stören, wenn ihr Freund feststellte, dass sie zugenommen hatten. Ich hingegen freute mich.
»Deine Tante hat gesagt, du würdest die Entwicklung schon aufholen, sobald dein Körper nicht mehr so hart ums Überleben kämpfen muss.« Seine Stimme erstarb, sein Tonfall war besorgt.
»Und was ist deine Ausrede?«, versuchte ich, die Stimmung aufzulockern.
»Offenbar bin ich Spätentwickler«, erwiderte er mit einem Grinsen.
Ich griff nach dem nächstbesten Spitzenkissen und warf es quer durchs Zimmer nach ihm.
»Danke. Woher wusstest du, dass ich das brauche?« Er schnappte sich das Kissen aus der Luft und schob es sich mit einer lässigen Bewegung hinter den Kopf, als hätte ich ihm einen Gefallen getan.
Lächelnd und von unterdrücktem Gelächter geschüttelt, ließ ich mich rückwärts auf die Matratze fallen. Tens kicherte, rührte sich aber nicht vom Sofa. »Warum kommst du nicht ins Bett?«, fragte ich.
»Ich habe es bequem hier. Schlaf nur.«
Mein Glücksgefühl verflog.
Bin ich so abstoßend?
»Bist du sicher?«
Soll ich das Thema Sex ansprechen? Sollen wir darüber reden? Ist es nicht so, dass alle Männer ständig Sex wollen?
»Du weißt, dass wir einen unterschiedlichen Schlafrhythmus haben.« Er war nicht sehr überzeugend.
Warum vermeidet er die Situation, mit mir in einem Bett zu liegen, wenn ich wach bin?
Seufzend drehte ich mich auf die Seite. Das Schweigen wurde bleiern, und der Kloß in meiner Kehle rutschte mir in den Magen. Normalerweise gefiel es mir, wenn die Welt abends ruhiger wurde. Dann ließ ich die Ereignisse des Tages Revue passieren, verarbeitete die neuen Informationen, die ich von den Seelen erhalten hatte, und atmete das Leben tief in mich hinein. Wir hatten doch alle Zeit der Welt, richtig? Also musste ich mich auf die Mission konzentrieren, das Mädchen zu finden, anstatt über meine nicht vorhandene intime Beziehung mit Tens nachzugrübeln. Ich musste aufhören, an Sex zu denken, verdammt! Sicher hätte ich mich besser gefühlt, wenn er Annäherungsversuche unternommen und ich sie zurückgewiesen hätte. Doch er benahm sich, als hätte er
Wie ein Gentleman einer Dame den Hof macht
aus dem Jahr 1604 gelesen.
Da die Grenzen des Bewusstseins aufgehoben waren, brachte die Nacht eine Schutzlosigkeit, die zu Alpträumen führte. Schreckliche Bilder von Perimo und seiner zahlreichen Gefolgschaft gingen mir wie auf Endlosschleife durch den Kopf, bis ich vor Panik Herzrasen und feuchte Hände bekam. Allein Perimos Namen zu denken sorgte dafür, dass es mir vor Angst den Magen zusammenkrampfte. Also versuchte ich, ihn so lange zu wiederholen, bis ich nicht mehr körperlich darauf reagierte. Bis jetzt vergeblich. Perimo, Aternocti, Perimo, Aternocti, Perimo, Aternocti …
Das Kratzgeräusch von Tens’ Schnitzerei schuf einen Rhythmus, ein Hin und Her, einen gleichzeitig rauhen und glatten Hintergrund, der mich erdete. Ich
Weitere Kostenlose Bücher