Meridian - Flüsternde Seelen
ein junges Paar beobachtet, das sich in einem Diner einen Eisbecher teilte. Glücklich. So froh. Sie waren bis über beide Ohren verliebt.« Er lächelte und blickte mich eindringlich an. »Der Eisbecher war riesig.« Er lachte. »Genug Eis für einen ganzen Bundesstaat mit Streuseln und Saucen und Unmengen von Schlagsahne. Und zwei Löffel. Die beiden waren so verknallt, dass sie förmlich strahlten. Sie brauchten keine Worte. Sie haben nicht geredet, nur gelächelt.«
»Und deine Mom war auch da?« Tens erwähnte seine Familie fast nie. Ich wusste nicht, ob es ihm zu weh tat oder ob er nicht wollte, dass ich davon erfuhr. Doch wahrscheinlich glaubte er einfach, dass das alles nichts mit heute und morgen zu tun hatte. Mit uns.
Er bewegte sich. »Ja, sie hat mit mir zusammen zugeschaut und meine Hand gehalten. Ich hatte ganz vergessen, wie sich ihre Hände anfühlten. So zart, dass ich jeden Knochen spürte. Aber stark. Und so tüchtig. Am späten Nachmittag hat sie immer nach Jasmin gerochen.«
Als ich seinen liebevollen Tonfall hörte, wurde mir ganz warm ums Herz. Ich nickte in der Hoffnung, dass er weitererzählen würde.
»Dann kam Großvater in das Diner, und die ganze Szene veränderte sich. Sobald er mit seinem Spazierstock ins Gebäude hinkte, wurde alles dunkel. Der Löffel fiel klappernd auf den Tisch, und das Eis schmolz in Sekundenschnelle. Das Paar erstarrte vor Angst, und Mom umfasste fest meine Hand. Großvater sagte kein Wort, sondern packte einfach das Mädchen. Dann erschien Perimo, und die Aternocti stürmten herein.«
Schmerz und Trauer sorgten dafür, dass sich seine Worte überschlugen. Ich umfasste seine Taille, um ihn zu stützen, und lehnte mich weiter an ihn. »Kein Mensch bemerkte, dass die Aternocti das Gebäude abrissen. Jemand zerrte Ma von mir weg, so dass ich ihre Hand loslassen musste. Ich konnte sie nicht halten.« Er stieß mich weg und stand auf. Sein Atem ging wieder rauh und stoßweise. Der Schweiß ließ ihm das Haar kreuz und quer am Kopf kleben.
»Es war doch nur ein Traum.« Tens machte sich von mir los, taumelte zum Spülbecken und trank in großen Schlucken vom laufenden Wasserhahn. Er trank wie ein Mann, der mehr brauchte als Wasser.
Ich erschauderte. Ob Traum oder nicht, allein die Erwähnung von Perimos Namen zog mir den Magen zusammen. Die Aternocti waren die Gegenspieler der Fenestrae. Während wir den Seelen zu Frieden und einem schönen Leben im Jenseits verhalfen, verursachten sie Chaos und Verheerung, um sie an einen Ort zu locken, wo es kein Licht gab und der im Volksmund als Hölle bezeichnet wurde. Allerdings ging es um mehr als um Himmel gegen Hölle, Licht gegen Dunkel oder Gut gegen Böse.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass bald der Morgen grauen würde.
Tens kehrte zum Bett zurück und strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Entschuldige, dass ich dir Angst gemacht habe.«
»Schon gut. Wie geht es dir?« Der Rollentausch störte mich nicht. Ich wünschte nur, ich hätte gewusst, was ich sagen oder tun sollte, damit er sich besser fühlte.
Er zog ein Paar zerfledderte Laufschuhe aus seiner Reisetasche aus Armeebeständen. Keine Socken. »Leg dich wieder schlafen. Ich gehe laufen, um die Anspannung loszuwerden.« Geistesabwesend küsste er mich, während er sich ein sauberes Hemd und ein Sweatshirt über den Kopf zog. »Es war nur ein Traum.«
Ich legte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Hoffentlich hatte er recht. Aber was, wenn zwischen meiner Begegnung mit Tante Merry und seinem Traum von seiner Mom und seinem Großvater ein Zusammenhang bestand? Wenn wir mehr über seine Vergangenheit herausfinden mussten, bevor wir eine Zukunft haben konnten? Wenn es keine Träume waren, sondern Visionen?
Als ich einige Stunden später auf den Pfad hinaustrat, der zur Küchentür des
Helios
führte, war Tens damit beschäftigt, Bäume und Stufen vom Efeu zu befreien. Er war vom Laufen zurückgekommen, hatte geduscht und war zur Arbeit gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Er winkte mir zu und runzelte dabei geistesabwesend die Stirn. Ich hatte gelernt, seine finstere Miene nicht persönlich zu nehmen. Jedenfalls nicht immer. Er verschloss sein Gesicht und seine Gefühle, als sei er ständig darauf gefasst, einen emotionalen Tornado allein durchstehen zu müssen. Mich ließ er Zentimeter um Zentimeter hinter seine Mauern. Es war nicht so, dass ich mir seine Liebe oder seinen Schutz hätte verdienen müssen – die bekam ich unbesehen –, doch wir
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