Meridian - Flüsternde Seelen
hielt die Augen geschlossen, doch ich konnte nicht schlafen. Die Nächte rissen auch die Wunden auf, die ich mit mir herumtrug. Es war nicht mehr der brennend scharfe Schmerz wie von glühender Kohle, weil sich rings um mein Herz Narbengewebe gebildet hatte. Allerdings ertappte ich mich in den Sekunden zwischen Wachsein und Schlaf, in der Zwischenwelt vor der völligen Entspannung, dabei, dass ich nach meiner Tante suchte.
In Wahrheit suchte ich die ganze Zeit nach ihr. Tagsüber hielt ich in den Schatten nach etwas Ausschau, das mich an sie erinnerte. Manchmal roch ich sie, wenn ich ein Zimmer betrat, obwohl ich nicht hätte sagen können, was an diesem Duft so absolut typisch für sie war.
Das Knirschen von Schmirgelpapier bedeutete, dass Tens mit einem Stück fertig war.
Hat er nicht gerade erst damit angefangen?
Meine Tante Meridian hatte versucht, mir etwas mitzuteilen, und zum Fenster hinaufgerufen. Ich hatte das Gefühl, dass ich an dieses Fenster zurückkehren musste. Nicht weil eine Seele mich brauchte, sondern absichtlich und meinen eigenen Plänen folgend.
Ich musste mehr hören und Fragen stellen.
Und sie anflehen, zurückzukommen und das Kommando zu übernehmen.
»Nicht, Meridian.« Tens beugte sich über mich und wischte mir die Tränen von den Wangen. »Sie würde es nicht wollen, dass du dich so zermürbst.«
Mein stoßweises Ausatmen war wie das eines Kindes, das so heftig geweint hatte, dass es jetzt nach Luft rang.
»Alles in Ordnung, alles in Ordnung«, wiederholte Tens beschwichtigend. Er streichelte mein Haar und rieb mir die Arme warm.
»Geh nicht.« Meine Bitte klang eher wie eine Frage.
»Ich bleibe hier. Schlaf.« Er schlüpfte unter die Decke.
Ich kuschelte mich enger an seine Seite, als er die Decke über uns beide breitete. Es war, als wollten sich ein Kinderlöffel und ein Kochlöffel aneinanderschmiegen. Und dennoch klappte es und fühlte sich wunderbar unvollkommen an.
Er roch sauber nach Zahnpasta und Seife. Ich ließ mich treiben und war kurz davor, in Bewusstlosigkeit zu versinken. Gerade noch hatte ich warm und geborgen dagelegen, im nächsten Moment schreckten mich seine Schreie hoch. »Nein! Warte! Sprich mit mir! Sag es mir! Nein, nein!«
Meine Beine verhedderten sich in den Decken. Ich fiel aus dem Bett.
Rums!
Die unsanfte Landung riss mich jäh aus meiner Schlaftrunkenheit.
Tens schrie auf.
Ich kroch zurück aufs Bett. »Tens, Tens, wach auf. Wach auf!«, rief ich in dem Versuch, mich durch seine Angst hindurch bemerkbar zu machen.
[home]
Kapitel 7
T ens warf den Kopf hin und her und trat um sich, als müsste er einen unsichtbaren Angreifer abwehren. Ein Kampf um Leben und Tod. Weshalb? Das wusste ich nicht.
Da ich Angst hatte, er könnte sich verletzen, packte ich ihn am Oberarm, um ihn zu wecken. Doch er war so stark, dass ich stattdessen ins Geschehen einbezogen und mit einer Armbewegung übers Bett geschleudert wurde.
»Tens!« Mein Stöhnen, als mein Kopf aufs Kissen prallte, holte ihn endlich aus seinem Alptraum.
»Merry?« Schläfrigkeit und Angst ließen seine Stimme rauh werden. Sein durchgeschwitztes Hemd hob und senkte sich mit jedem mühsamen Atemzug.
Ich kroch zu ihm zurück. »Bist du jetzt wach?«
»Ja.« Er setzte sich auf, rieb sich das Gesicht, schlug die Beine unter und lehnte sich an das Kopfbrett. »Habe ich dir weh getan?«
»Nein, alles in Ordnung.« Ich machte Licht. Als er nach mir griff, vibrierte seine Berührung vor Kraft. Ich saß rittlings auf seinen Hüften, und er drückte mich an sich wie einen Teddy.
Er hielt mich fest, als wäre ich ein Rettungsfloß in einem sturmgepeitschten Ozean. »Was war das?«, flüsterte ich.
»Mom.« Der Schmerz gab seinem Tonfall eine tiefdunkelblaue Färbung. Seine Mom? Er sprach doch nie über sie. Niemals. Ich wartete ab, denn ich hatte gelernt, ihn nicht zu bedrängen. Er sollte sich öffnen, wenn er so weit war. Und wenn es mich umbrachte.
Tens stieß die Wörter mit jedem Atemzug hervor. »Und mein Großvater und ein Mann – ein Junge, vielleicht war es eher ein Junge. Dein Alter. Jünger als ich.« Als sich sein Schweiß abkühlte und sein Herzschlag langsamer wurde, begann er zu zittern.
Meine Haut klebte an seiner. Seit Wochen wartete ich nun schon darauf, mehr über ihn und seine Familie zu erfahren. »Hattest du Angst? Warst du wütend?«
Sein Arm zuckte. »Ja, später im Traum kamen Perimo und noch andere Aternocti darin vor, aber am Anfang war meine Mom bei mir. Wir haben
Weitere Kostenlose Bücher