Meridian - Flüsternde Seelen
einen abgrundtief erbosten Blick zu. »Nur über meine Leiche.«
»Sehr witzig.« Ich hatte nicht die Kraft, über seine ernstgemeinte, wenn auch absurde Äußerung zu lachen. »Es wird nur dann leichter, wenn ich es öfter wiederhole.« Für mich hörte sich das jedenfalls logisch an.
Er schüttelte den Kopf und zerrte an seinen Schnürsenkeln. »Du hättest dich sehen sollen. Du bist kreideweiß geworden. Und … dein Haar.« Seine Stimme wurde rauh und sank um eine Oktave.
»Was ist damit?« Ich stützte mich auf die Ellbogen, um ihn anschauen zu können.
»Die Locken waren plötzlich weg. Es sah aus wie eine welke Pflanze.«
»Wirklich?« Ich hob die Hand zum Kopf und betastete meine schlaffen Locken. »Weißt du, wie viele Stunden ich damit zubringe, es zu glätten? Und dabei geht es so einfach«, witzelte ich.
Cool.
Aber ich glaubte nicht, dass Tens dieses Wort jetzt hören wollte.
Der Kurzhaarschnitt, den ich mir selbst verpasst hatte, war herausgewachsen, so dass mein Haar, selbst wenn es sich stark lockte, die Schultern berührte. Aber glatt gefiel es mir besser. Vermutlich bevorzugen wir immer das, womit wir nicht geboren sind.
»Das war kein Frisurentipp.«
»Ich weiß.« Ich seufzte. Ich wollte, dass er wieder lachte. Wenn er sich Sorgen machte, wurde er meistens laut.
Auf Strümpfen stampfte Tens in die Küche und griff nach einer Karte, auf der eine Nachricht stand. »Joi hat uns Suppe, Brötchen, Nachtisch und einen Kuchen in den Kühlschrank gestellt.«
»Super. Wie nett von ihr.« Ich schob mit den Zehen die Turnschuhe von den Füßen und ließ sie auf den Boden neben dem Bett fallen.
»Meinst du, die Sachen sind in Ordnung?« Tens schnupperte an den Behältern.
»Ich gehe das Risiko ein.«
»Schon gut, ist nur …«
Ich merkte auf, als ich den Selbstzweifel in seinem Ton bemerkte. »Schon verstanden. Du willst mich beschützen, aber du kannst mich nicht in Watte packen.«
»Du bist zu risikofreudig.« Geschirr klapperte, Schranktüren knallten. Er sah mich nicht an.
»Ich tue nur meine Pflicht.«
»Ich spreche hier nicht vom Übergang, Merry, sondern davon, dass du die Sterbenden aktiv aufgesucht hast. Und noch dazu so viele auf einmal. Du könntest dir dabei weh tun.«
»Das haben wir hinter uns.«
»Haben wir das? Bist du sicher?« Er drehte sich um.
»Was soll das heißen?«
»Wenn du wirklich alles im Griff hättest, würdest du nicht umkippen. Du übernimmst dich.«
»Tante Merry hat doch auch …«
»Nein, hat sie nicht.«
»Verschon mich.«
»Nein, hör mir zu. Sie konnte eine Seele übergehen lassen, wie sie eine Straße überquerte. Am Fußgängerüberweg und bei Grün.«
»Und ich gehe wohl bei Rot?«
»So ungefähr. An große Mengen von Seelen musst du dich heranarbeiten. Du musst vorsichtig sein.«
»Tante Merry erscheint mir nur, wenn Menschen durch mich hindurchgehen.« Schicksalsergeben streckte ich ihm die Hände hin.
Er erstarrte. »War sie wieder da?«
Ich stand auf und näherte mich ihm. »Ja, aber was sie sagte, war verzerrt und verfremdet. Wie beim ersten Mal. Ein paar Wörter habe ich verstanden. Wir müssen einen Vater Soundso finden. Und Custos fragen.«
»Ich halte es noch immer für zu gefährlich.«
»Ich passe auf.«
»Nein, tust du nicht.«
Der Satz war wie eine Ohrfeige.
»Ich …« Ich sank in einen Sessel. Meine kämpferische Stimmung war plötzlich wie weggeblasen. »Ich bin ein Feigling.«
»Was?« Verwundert hielt er inne und lehnte sich an die Arbeitsfläche.
»Am liebsten würde ich mich in Sibirien oder in der Antarktis verstecken.«
»Wovon redest du?«
»Die Aternocti jagen uns … Ich soll eine andere Fenestra suchen und sie retten. Und außerdem noch den Sterbenden dabei helfen, eine höhere Ebene zu erreichen. Ich will das alles nicht.« Ich stützte den Kopf auf die Arme. »Sie haben sich das falsche Mädchen ausgesucht.«
»Nein, haben sie nicht.«
»Doch.« Ich hob den Kopf und sprach weiter. »Sie hätten ein mutiges und selbstbewusstes Mädchen nehmen sollen, und stattdessen sind sie an mich geraten. Was hat Tante Merry mir sagen wollen?«
Tens kam näher, kniete sich neben mich und wischte mir mit den Daumen die Tränen ab. »Deine Tante hat an dich geglaubt.«
»Das behauptest du nur so.«
»Nein, tu ich nicht. Weshalb, meinst du, hat sie deine Eltern gebeten, dich nach ihr zu benennen? Und warum hat sie dir wohl die Steppdecken mit den Fenestra-Motiven geschickt und in jeden Stich ein Gebet
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