Meridian - Flüsternde Seelen
Samt auf meiner nackten Haut zu spüren. Der Schal machte jede Bewegung mit und wurde warm, als trüge ich ein Lebewesen um den Hals. Ich umarmte Tens und wusste, dass ich das richtige Hemd ausgesucht hatte. Blau stand ihm ausgezeichnet.
Er schaute zu mir herunter. »Du bist so wunderschön wie immer, Supergirl.«
»Auch im Sponge-Bob-Pyjama?«, witzelte ich.
»Ich bin schrecklich enttäuscht, dass er dir nicht mehr passt.« Seine Stimme wurde noch dunkler und verhieß einiges.
»Der war wirklich sexy.« Ich lachte, obwohl mir die Erinnerung das Herz zusammenkrampfte. Sammy hatte ihn mir geschenkt.
»Du vermisst ihn, richtig?«
Ich tat nicht so, als hätte ich Tens falsch verstanden. Es war wieder eine der Gelegenheiten, bei denen er meine Gefühle besser kannte als ich. »Mehr, als ich in Worte fassen kann. Hoffentlich geht es ihm gut.«
Er legte das Kinn auf meinen Scheitel. »Wenn es nicht so wäre, wüsste ich es. Ich würde es sicher spüren.«
»Meinst du?« Ich genoss seine Wärme und seinen regelmäßigen Herzschlag. Sein Tonfall war selbstbewusst, als er es noch einmal beteuerte.
»Ganz bestimmt. Schließlich ist es meine Aufgabe, dich zu beschützen. Wie soll ich das tun, wenn ich mich von Dingen wie diesen überraschen lasse? Ob wir versuchen sollten, sie zu finden?«
»Vielleicht.« Ich bemerkte, dass ich mich verkrampfte. Würde ich das aushalten? Würde ich in der Lage sein, mit meiner Mom zu sprechen, ohne sie anzuschreien, sie zu hassen oder ihr alle Vorwürfe an den Kopf zu werfen, die ich so lange heruntergeschluckt hatte?
»Natürlich erst, wenn du so weit bist«, ruderte er zurück.
»Noch nicht.« Ich kochte auch weiterhin vor Wut auf meine Mutter. Meinem Vater war ich nicht so böse, denn schließlich hatte er genauso im Dunkeln getappt wie ich.
»Möglicherweise hilft es dir ja weiter, wenn du sie anhörst.« Tens wich zurück und zog mich in Richtung Tür.
Ich schüttelte den Kopf. »Wir kommen zu spät.« Nachdem ich so plötzlich das Thema gewechselt hatte, fasste ich ihn an der Hand, und wir eilten zu Fuß zur Meridian Street, wo Rumi wohnte. Die Luft fühlte sich so schwül und feucht an wie in der Nähe des Meeres.
Rumis Wohnung lag hinter seinem Lagerhausatelier und der Galerie. Der Eingang war eine Schiebetür aus Glas, wie man sie sonst auf Terrassen findet. Sie öffnete sich, noch ehe wir angeklopft hatten. »Kommen Sie herein.« Im Hintergrund erklang ein bewegtes Streichquartett, und flackernde Kerzen standen in schmiedeeisernen Laternen und Leuchtern. Der Duft von gegrilltem Fleisch, warmem Brot und Hyazinthen wehte uns entgegen. Das lebhafte Stimmengewirr der Gäste wirkte nicht abschreckend, sondern entspannend auf mich. Es versprach ein netter und lockerer Abend zu werden.
Dennoch wusste ich nicht so recht, was mich erwartete. Mir fehlte die Gruppenerfahrung. Normalerweise mied ich Menschenmengen.
Die ehemalige Fabrikhalle mit ihrer hohen Decke war offenbar die einzige Räumlichkeit, in der ein Mann von Rumis Statur sich nicht beengt fühlte. An den Balken hingen tibetische Gebetsfahnen. Rasch blickte ich mich um und stellte überrascht fest, dass es hier kaum Gegenstände aus Glas und auch sonst nicht viel Krimskrams gab. Die Ausstattung wirkte beinahe klösterlich.
Ich wollte Rumi die Tüte mit seinem Archiv darin zurückgeben. »Wir würden uns das gern noch einmal anschauen, wenn es möglich ist«, raunte ich.
»Behaltet die Sachen einfach noch eine Weile«, flüsterte er und stellte die Tüte zu unseren Mänteln. »Und jetzt mache ich euch mit meinen Freunden bekannt.« Rumi umkreiste die Anwesenden und nannte uns alle Namen.
Die Gäste schienen einander sehr vertraut zu sein. Mit Ausnahme einer Frau, Nelli, die im Jugendamt arbeitete und im Auftrag des Justizministeriums Fällen von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung auf den Grund ging, schienen alle schon seit Jahrzehnten in Rente zu sein.
Rasch setzten wir uns zum Essen. Der Tisch war eine beeindruckende, mit einer Glasscheibe versehene Fläche aus Wurzelholz. Obwohl jedes Gedeck in sich zusammenpasste, stammten die einzelnen Ensembles eindeutig von verschiedenen Künstlern, die mit jeweils anderen Materialen arbeiteten. Selbst die Bestecke hatten nicht dieselben Muster. Ich saß neben Tens. Rumi und Gus ließen sich an den Enden der Tafel nieder. Faye, Sidika und Nelli hatten uns gegenüber Platz genommen.
Die Unterhaltung war angenehm, aber nicht zu anspruchsvoll, bis Rumi jeden aufforderte,
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